Das ungeheuerliche Dorf

Die Welt ist ein Dorf - so heißt es manchmal im heutigen digitalen Zeitalter. Aber wenn es so wäre, dann wäre es ein sehr merkwürdiges Dorf. Einerseits hätte sich das Dorf rasant weiterentwickelt - ja, es hätte sich in nur zwei Generationen komplett verändert. Zum Beispiel wäre die Bevölkerung des Dorfes von 58 Einwohnern vor vierzig Jahren auf 100 heute angewachsen. Von den ursprünglichen 58 Einwohnern hätten 25 gehungert. Heute wäre dieser Anteil um 75 % gesunken. Was für ein Erfolg! Aber andererseits wäre es immer noch eine extrem ungerechte Dorfgemeinschaft - von den 100 Dorfbewohnern heute würden immer noch zehn hungern. Und ob ein Mensch in bitterer Armut oder im Luxus lebt, würde kaum davon abhängen, ob er begabt, gebildet oder fleißig ist, sondern fast ausschließlich davon, in welchem Teil des Dorfes er geboren wurde. Außerdem würde die Hälfte des Reichtums des gesamten Dorfes einer einzigen Person gehören. Zusammen mit ihren neun reichsten Freunden besäßen sie sogar 85 Prozent des Reichtums des Dorfes und würden etwa die Hälfte des gesamten Einkommens des Dorfes auf sich vereinen - etwa 500-mal so viel wie die zehn Ärmsten zusammen.

Ökonomische Ungleichheit ist ein ausgesprochen vielschichtiges Thema, das häufig stark emotional besetzt und politisch vorbelastet ist. Je nachdem von welcher Seite man die Entwicklung des Dorfes betrachtet. Wir wollen das Thema „ökomische Ungleichheit“ aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchten. Zunächst einmal in diesem Paper aus der eher wissenschaftlichen Brille, um die Grundlagen für weitere Analysen zu legen. Hier geht es um die Definition von ökonomischer Ungleichheit, ihrer Messung und um die wichtigsten globalen Trends.

In einem zweiten Papier werden wir uns mit den beiden anderen Perspektiven befassen. Zunächst werden wir uns mit dem Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum befassen, weil, einfach ausgedrückt, zu viel Ungleichheit, genau wie zu viel Umverteilung, das Wachstum behindert. Zweitens wird Ungleichheit auch für Investoren, die über ESG-Kriterien nachdenken, zunehmend relevant. Wer als Investor nach ESG-Kriterien – und damit auch unter sozialen Aspekten – anlegen will, kommt um das Thema Ungleichheit nicht herum. Gemäß dem zehnten der insgesamt siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Vereinten Nationen[1] soll die Weltgemeinschaft „die Ungleichheit in und zwischen den Ländern verringern“. Investoren könnten so incentiviert sein, weniger in Länder zu investieren, die in diesem Bereich keine nennenswerten Fortschritte erzielen bzw. keine oder zu geringe Anstrengungen unternehmen, um diese zu erreichen.


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1. Siehe Vereinten Nationen (2015)

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