Eines kann sicherlich schon zu Beginn des Jahres 2020 gesagt werden: Vor uns liegt ein ereignisreiches Jahr. So dürften die Märkte ab und zu erzittern, wenn sie wieder einmal von einem neuen Trend kalt erwischt werden. Die alten Hasen an der Wall Street wissen jedoch, dass es viel zu früh ist, um größere, ab 2021 möglicherweise anstehende politische Veränderungen vorherzusagen. Zumindest bis zum Labor Day im September halten wir es nicht für angebracht, jede politische Schlagzeile allzu ernst zu nehmen.
Wer wie wir die US-Politik mit Begeisterung verfolgt, sollte es mit einem Mittelweg zwischen Medienhype und Gelassenheit versuchen. Auf den folgenden Seiten weisen wir auf die möglichen Signale hin, die bei all den Turbulenzen der kommenden Monate nicht übersehen werden sollten. Am Anfang steht ein kurzer Blick zurück ins Jahr 2016. Danach geben wir unsere Einschätzung US-amerikanischer Meinungsforschung, werfen einen ersten Blick darauf, was sonst noch alles am Wahltag auf dem Spiel steht und stellen unsere bevorzugten Informationsquellen vor. Außerdem beschreiben wir, für wie wahrscheinlich wir drei marktrelevante Wahlausgangsszenarien halten. Und sollte Ihr Hunger nach politischen Prognosen immer noch nicht gestillt sein, so schlagen wir zum Schluss eine Lektüre vor, die 2020 und darüber hinaus gute Dienste leisten dürfte.
1. Das Jahr 2016 und seine Bedeutung
Statistisch gesehen verdankt Donald Trump seine Präsidentschaft einem Zufall. In Michigan, Pennsylvania und Wisconsin, den drei Staaten, die ihm im Wahlkollegium zum Sieg verhalfen, lag er lediglich um insgesamt 78.000 Stimmen (oder 0,56 Prozent) von den in diesen drei Staaten abgegebenen 14 Millionen Stimmen vorne.[1] Auf das Wahlkollegium gehen wir in Abschnitt 3 näher ein. Hier soll aber erwähnt werden, wie knapp der Sieg Donald Trumps 2016 im Vergleich zu den Gewinnern früherer Wahlen ausfiel.
Bei allen Präsidentschaftswahlen seit 1984 errang der Sieger im Durchschnitt 50,3 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Zwischen 1984 und 2012 (also ohne 2016 und Donald Trump) lag der durchschnittliche Stimmenanteil des Siegers bei 50,9 Prozent, also marginal höher. Trump erhielt 46,1 Prozent der Stimmen, obwohl es keine(n) starke(n) dritte(n) Kandidaten/in gab, so wie dies mit Ross Perot bei den Präsidentschaftswahlen 1992 und 1996 der Fall war.
Grafik1: Anteil an allen abgegebenen Stimmen bei den US-Präsidentschaftswahlen seit 1984
Stimmenanteil des Siegers orange umrandet. Die gestrichelte Linie markiert den durchschnittlichen Anteil des Siegers von 50,3 Prozent.
Quelle: Federal Election Commission; Stand: 19.12.2019
Nicht, dass Hillary Clinton so viel mehr Stimmen eingesammelt hätte als Donald Trump. Wie wir in unserem 2016 CIO View Spezial ausführten, waren sowohl Trumps als auch Clintons Beliebtheitswerte historisch niedrig.[2] Anders ausgedrückt: In fast jedem anderen Wahljahr wäre Trump nicht mal Zweiter geworden. Trump bekam kaum mehr Stimmen als Michael Dukakis im Jahr 1988 – und weniger als der unterlegene Präsidentschaftsbewerber in vier der letzten fünf Präsidentschaftswahlen (siehe Grafik 2)! Trotz einer gewachsenen Bevölkerung erhielten sowohl Clinton als auch Trump 2016 weniger Stimmen als Obama 2012 und deutlich weniger als Obama 2008 (siehe Grafik 3).
Grafik 2: Verlierer und Trump
Grafik 3: Gewinner und Trump
Quelle: Federal Election Commission; Stand: 19.12.2019
Was soll's, fragen Sie sich vielleicht. Trotzdem hat Trump 2016 gewonnen. Das Problem liegt darin, dass die Art und Weise, wie er 2016 gewonnen hat, kaum Schlüsse auf 2020 zulässt. 2012, vor der anstehenden Wiederwahl Barack Obamas, wurden konservative Kommentatoren nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Amtsinhaberschaft keineswegs die Wiederwahl garantiere: "Bisher wurden amtierende Präsidenten beim zweiten Anlauf von den Wählern häufiger abgelehnt als gewählt."[3] Aber wie bei allen Urteilen aus der "Wahlgeschichte" mahnen wir auch hier zur Vorsicht, vor allem wenn die "Geschichte" parteiisch betrachtet wird.
Vor Trump gab es seit dem amerikanischen Bürgerkrieg nur drei Präsidentschaftswahlen, bei denen der Sieger im Wahlkollegium nicht die meisten Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte (1876, 1888 und 2000). Von diesen bisherigen "Wahlstimmenverlierern" gelang nur einem, nämlich George W. Bush, die Wiederwahl (und ihm fehlten beim ersten Sieg im Jahr 2000 gegen Al Gore nur 0,5 Prozent der Wählerstimmen). Deshalb ist schwer zu sagen, wie viel sich aus dem Sieg von 2016 für 2020 ableiten lässt. Trumps Wahlsieg 2016 ist in der Neuzeit tatsächlich beispiellos. Nicht nur, weil Trump ein ungewöhnlicher Kandidat mit einer ungewöhnlichen Wählerschaft war. Letztlich war die geographische Verteilung der Trump-Wähler für seinen Erfolg im Wahlkollegium ausschlaggebend.
Die Amtsinhaberschaft erwies sich für einen Kandidaten wie Obama 2012 auch deshalb als Unterstützung, weil er trotz des Verlusts vieler Wählerstimmen (letzten Endes waren es beinahe 3,6 Millionen, wenn man 2008 und 2012 vergleicht) die Wiederwahl bequem gewinnen konnte. Donald Trump könnte solch herbe Verluste kaum verkraften. Wir kommen in Abschnitt 5 darauf zurück, wie sich dies auf die Wahlprognosen auswirken könnte.
2. US-Meinungsumfragen und Trumps Chancen auf eine Wiederwahl
Als dieser Beitrag verfasst wurde, war das Amtsenthebungs-Verfahren (Impeachment) gerade im Senat angekommen. Für Prognosezwecke erscheint das Verfahren im Senat eher ein Nebenschauplatz – es ist nach wie vor äußerst unwahrscheinlich, dass genügend republikanische Senatoren (die in dieser Kammer mit 53 von 100 Stimmen die Mehrheit haben) einer Verurteilung Donald Trumps und damit seiner Entfernung aus dem Amt zustimmen werden.[4] Und auch wenn für einige bislang unentschlossene Wähler durch das Impeachment-Verfahren Donald Trump ein Makel anhaften könnte, ist es zumindest ebenso plausibel, dass das Verfahren im Senat eine Konsolidierung der Republikaner und eine Mobilisierung ihrer Basis im November auslösen könnte.
Es ist durchaus möglich, dass beides gleichzeitig passiert, wobei die politischen Auswirkungen in den verschiedenen Teilen des Landes unterschiedlich sein könnten. Ähnliches passierte vor den Zwischenwahlen 2018 nach den langwierigen und erbitterten Senatsanhörungen von Brett Kavanaugh, bevor er den Richterposten im Supreme Court antreten konnte. Die anschließende Auseinandersetzung über Anschuldigungen sexueller Übergriffe fiel in einen kritischen Zeitpunkt des Wahlkampfs. Sie trug zu einer Konsolidierung der Republikaner und einer Mobilisierung ihrer Basis in wichtigen Wahlen um Senatssitze bei, gleichzeitig verschärfte sie aber die Probleme der Republikaner, bei der Wahl neuer Mitglieder des Repräsentantenhauses ihre weibliche Anhängerschaft in den Vorstädten nicht zu verlieren.
Auch andere Ereignisse, wie die eskalierenden Spannungen im Nahen und Mittleren Osten, könnten bei vielen Wählern das Impeachment-Verfahren bis zum November aus dem Gedächtnis verdrängen. Aber solche Muster dürften sich in all diesen Fällen im Lauf der Zeit deutlicher in den Umfrageergebnissen abzeichnen, so wie dies nach der Auseinandersetzung um Kavanaugh der Fall war.
Auch der Stand der Wahlforschung in den USA allgemein muss berücksichtigt werden, um neue Informationen in den kommenden Monaten zu bewerten. So hatten wir vor den Zwischenwahlen 2018 geschrieben: "US-Wahlen unterscheiden sich grundlegend von anderen Wahlen, da hier eine Unmenge historischer Daten vorliegen sowie etablierte Meinungsforscher und ein ganzes Heer datenfokussierter Analysten und Kommentatoren am Werk sind. Nate Silver ist mit seiner Website https://fivethirtyeight.com/ Vorreiter einer datenfokussierten, auf Wahrscheinlichkeiten beruhenden Analyse und Prognose möglicher Wahlergebnisse. Andere verfolgen einen ähnlichen Ansatz. Das ist einer der Gründe, warum die Analyse von US-Wahlen nicht nur einfacher ist – wir müssen nicht so viele Zahlen selbst berechnen –, sondern auch mehr Spaß macht, weil es genügend sachkundige Kommentatoren gibt, von denen man lernen kann."[5]
Diese US-Kommentatoren glauben fest an drei Dinge: Erstens, dass auch Umfragen angesehener Institute mit Umfragefehlern unbekannter Größe und Richtung behaftet sein können. (Derartige Fehlprognosen basieren meist auf methodologischen Fehlern und tendenziösen Einschätzungen der verwendeten Rohdaten, weniger auf Stichprobenfehlern.) Zweitens: Durch die Ermittlung des Durchschnitts sehr vieler Umfrageergebnisse und die Gewichtung der Umfrageergebnisse, um erprobtes methodologisches Vorgehen und die Prognosegenauigkeit zu untermauern, lässt sich dieses Risiko verringern. So bieten sich auch wertvolle Einblicke, wie groß die Umfragefehler in der Vergangenheit ausfielen und ob die Prognoseergebnisse insgesamt für eine bestimmte Wahl besser oder schlechter geworden sind. Drittens: Es wird allgemein als vergebliche Liebesmühe betrachtet, bei US-Wahlen die Größenordnung oder Richtung eines vermuteten Umfragefehlers feststellen zu wollen.
Für all die politischen Prognosen, die wir rund um die Welt gemacht haben, würden wir die Glaubenssätze Nummer 1 und 2 unterschreiben. Das dritte Dogma sehen wir allerdings allgemein etwas gelassener als unsere US-Pendants: Nämlich den Gedanken, dass man niemals versuchen sollte, die Größenordnung oder Richtung zu erraten, mit der die Umfrageinstitute eines Landes von den tatsächlichen Ergebnissen abweichen. Es stimmt, dass es allgemein keine gute Idee ist, US-Wahlprognosen zu "entwirren" – wie CNN-Analyst Harry Enten vor einigen Jahren sehr treffend erklärt hat.[6]
Unsere Erfahrungen außerhalb der USA zeigen jedoch, dass in Ländern, in denen viele Wahlprognosen wirklich unzuverlässig sind, eine vorsichtige Anpassung der Umfrageergebnisse um potentielle Fehleinschätzungen der jeweiligen Meinungsforscher die Prognosegenauigkeit insgesamt erhöhen kann. So sind beispielsweise in Italien die meisten Umfragen seit vielen Jahren notorisch unzuverlässig. In anderen Ländern, wie dem Vereinigten Königreich und Frankreich, gibt es gute Gründe dafür, dass Wahlforschung schwieriger geworden ist. In diesen Ländern haben wir uns gelegentlich etwas weiter aus dem Fenster gelehnt als unsere US-Kollegen, vor allem wenn es zumindest bei einigen Umfragedaten oder vorangegangen Wahlen erste Hinweise gibt, was schiefgelaufen sein könnte.[7] Dies könnte auch in den USA zutreffen. So zeigte beispielsweise der Sieg der Demokratischen Partei beim Rennen um den Senatssitz für Alabama 2017 ganz deutlich, dass die meisten Wahlforscher drastisch unterschätzt hatten, in welchem Ausmaß die Präsidentschaft Trumps die Sympathisanten der Demokratischen Partei, und hier hauptsächlich jüngere Wähler, mobilisieren würde.
Allerdings greifen die US-Meinungsforscher derartige Trends in der Regel relativ schnell auf. Dies zeigen recht deutlich die informativen Analysen zu Prognosegenauigkeit und sich abzeichnenden Verschiebungen zugunsten einer Partei, die Nate Silver alle paar Jahre veröffentlicht. Bis jetzt war das Urteil immer in etwa so: "Nimmt man den Durchschnitt aller Umfragen, so gibt es keine konsequente Bevorzugung der einen oder anderen Partei (...). Die Erfahrungen der Vergangenheit lassen den Schluss zu, dass die Wahrscheinlichkeit für die eine oder andere Richtung gleich groß ist"[8] (so 2012) und dass (so 2018) "die Wahlumfragen in Ordnung sind (...). In den beiden letzten Jahren – also bei den Präsidentschaftswahlen 2016 und den verschiedenen Gouverneurswahlen und Sonderwahlen, die 2017 und 2018 stattfanden – lag die Umfrageverlässlichkeit ziemlich nah am historischen Durchschnitt."[9] In der Tat, "der Zyklus von 2017 bis 2019 gehört sogar zu den genauesten Prognosezyklen seit Beginn der Aufzeichnungen. (... von 2017 bis 2019) wurde bei den Umfragen im Wesentlichen keine der beiden Parteien bevorzugt, und sollte doch eine Partei bevorzugt worden sein, so vielleicht in sehr geringem Maß die Republikanische Partei (0,3 Prozentpunkte). So sieht das langfristige Muster aus: Wurde eine Partei in einem Umfragezyklus leicht bevorzugt, so ist diese Bevorzugung meist schon beim nächsten Zyklus vorbei."[10]
Die US-Wahlumfragen 2020 sollten also durchaus ernst genommen werden. Schon allein das von vielen Experten laut geäußerte Misstrauen gegenüber der Meinungsforschung ist ein recht guter und verlässlicher Hinweis darauf, welche Experten man ruhig links liegen lassen kann. Salopp formuliert wissen die Experten, die seit 2016 Wahlumfragen völlig abgeschrieben haben, generell nicht, wovon sie überhaupt reden und haben sich bisher auch nicht die Mühe gemacht, es herauszufinden. Wer Unterhaltung sucht, kann lesen, was sie schreiben, aber für Anlageentscheidungen oder auch andere Entscheidungen, für die gute Prognosen wichtig sind, wären sie nicht unsere präferierte Adresse.
Für umfragebasierte Prognosen ist in den Vereinigten Staaten die Nachrichtenwebsite FiveThirtyEight eine bessere Anlaufstelle – sie weist über mehrere Zyklen und Wahlen eine solide Erfolgsbilanz auf.
Das heißt natürlich nicht, dass ihre – oder auch andere – umfragebasierten Analysen und Prognosen immer richtig sind. Im Lauf dieses Wahlkampfs werden wir auf einige andere unserer bevorzugten Informationsquellen hinweisen, und auch auf die Bereiche, in denen wir mit den Konsensprognosen nicht einverstanden sind. Auf alle Fälle würden wir empfehlen, ab und zu einen Blick auf FiveThirtyEight zu werfen. Wenn Sie inmitten all dieser politischen Turbulenzen nur einem oder zwei Indikatoren folgen wollen, so würden wir unbedingt den "Trump Approval and Disapproval Tracker" von FiveThirtyEight empfehlen, der die Zustimmungsquote für Trump misst: https://projects.fivethirtyeight.com/trump-approval-ratings/?ex_cid=rrpromo
Sehr hilfreich ist, dass dieses Tool auch einen Vergleich der Beliebtheit Donald Trumps zu früheren Präsidenten im Lauf der Präsidentschaft erlaubt. In gewisser Weise ist der Kampf um die Wiederwahl immer auch eine Abstimmung über das, was der amtierende Präsident bisher erreicht hat, nicht nur die Wahl zwischen unterschiedlichen Visionen für die Zukunft. Trumps Werte machen deutlich, dass sowohl er als auch andere Republikaner durchaus verwundbar sind. Schließlich geht es 2020 um wesentlich mehr als "nur" die Präsidentschaft.
3. Senat, Repräsentantenhaus und Wahlkollegium
2018 verlor die Republikanische Partei ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus, konnte im Senat per Saldo aber zwei Sitze dazu gewinnen.[11] So war das Ergebnis erneut ein "geteilter" Kongress und daher somit "geteilte" Regierung für die beiden letzten Jahre der ersten präsidialen Amtszeit Donald Trumps. Schon in unserem CIO View Spezial von 2016, das als Grundlage einiger Teile dieses Beitrags diente, hatten wir auf dieses typische US-amerikanische Phänomen hingewiesen. Die Gründerväter Amerikas wollten mit allen Mitteln verhindern, dass eine einzelne Person oder Institution allzu viel Macht an sich zieht. Daher lagen ihnen die Kontrollmechanismen ("Checks and Balances"), die sich aus der Teilung der Regierung in Legislative, Exekutive und Judikative ergeben, so sehr am Herzen.
Das Zweikammersystem wurde eingeführt, um die Interessen der Bundesstaaten einerseits basierend auf der Bevölkerungszahl (im Repräsentantenhaus) und andererseits gleichwertig (im Senat) zu vertreten. Die Abgeordneten im Repräsentantenhaus werden alle zwei Jahre gewählt. Für die obere Kammer, den Senat, wird zwar auch alle zwei Jahre gewählt. Jedoch werden dabei aufgrund der sechsjährigen Amtszeit der Senatoren nur ein Drittel der Senats-Sitze neu besetzt. Dies soll überstürzte Entscheidungen des Kongresses aufgrund kurzfristiger Stimmungsschwankungen im Volk verhindern. Da jeder Staat von zwei Senatoren vertreten wird, können sich auch kleinere und bevölkerungsärmere Staaten in Washington Gehör verschaffen.
Einige Besonderheiten der Demokratie in AmerikaDas US-Wahlsystem weist ausgesprochen viele Besonderheiten auf. Schon lange vor der Ära Trump, nämlich bei der Präsidentschaftswahl 2000, wurde dies der Welt ganz deutlich vor Augen geführt, als Al Gore zwar landesweit die meisten Stimmen erhielt, die Präsidentschaftswahl aber dennoch verlor, nachdem der Supreme Court eine Neuauszählung in Florida gestoppt hatte. In den meisten Staaten werden die Wahlleute nach dem "Winner-Takes-All"-Prinzip (der Gewinner bekommt alle Wahlleute) in das Wahlkollegium ("Electoral College") entsandt, das den Präsidenten und den Vizepräsidenten wählt. (Dies gilt nicht für Maine und Nebraska, wo einige Wahlleute in Kongresswahlkreisen gewählt werden.) Andere Besonderheiten des politischen Systems der USA kennen außenstehende Betrachter vielleicht überhaupt nicht: So entspricht die Zahl der ins Electoral College entsandten Wahlleute der Gesamtzahl aus Senatoren und Abgeordneten. Da jeder US-Bundesstaat – auch wenn er nur spärlich bevölkert ist – durch mindestens einen Abgeordneten und zwei Senatoren vertreten wird, kommen aus jedem US-Staat mindestens drei Wahlleute. Allerdings darf hier nicht vergessen werden, dass dieser leichte Vorteil ländlich geprägter Bundesstaaten im Wahlkollegium insgesamt relativ gering ist und potentiell jeder der beiden großen Parteien nutzen – oder schaden – kann. Die große Mehrheit der 538 Wahlleute kommt aus bevölkerungsstarken Bundesstaaten, wobei Kalifornien mit 55 Wahlleuten, Texas mit 38 sowie Florida und New York mit jeweils 29 Wahlleuten das größte Gewicht haben. Die Auswirkungen dieser föderalen Struktur sind natürlich im Gesetzgebungsverfahren wesentlich größer als im Wahlkollegium. Derzeit haben sieben von 50 Bundesstaaten (neben den zwei üblichen Senatoren) nur einen Abgeordneten: Alaska, Delaware, Montana, North Dakota, South Dakota, Vermont und Wyoming. Wie die Karte zeigt, gibt es noch viele andere kleine oder spärlich besiedelte Staaten, in denen ein US-Senator weniger als eine Million Menschen vertritt. Wohnbevölkerung in Millionen pro US-SenatorQuelle: United States Census Bureau, DWS Investment GmbH; Stand: 08.09.2016
Ein Senator aus einem Staat wie (dem kleinen) Vermont hat genau dasselbe Gewicht wie ein Senator aus den bevölkerungsreichsten Staaten wie Kalifornien, Texas oder Florida. Insbesondere kann er oder sie das Gesetzgebungsverfahren durch die Verweigerung der Zustimmung bei geforderter Einstimmigkeit deutlich verlangsamen. So wird der Eindruck noch verstärkt, dass in Washington keine Entscheidungen getroffen werden. Washington D.C. hat als Hauptstadt der Vereinigten Staaten keine Stimme im Senat, da es kein eigener Bundesstaat ist. Es darf nicht einmal seine eigenen Angelegenheiten regeln, darf aber nicht stimmberechtigte Abgeordnete ins Repräsentantenhaus entsenden und verfügt über drei Stimmen im Wahlkollegium. |
2020 stehen alle 435 Sitze im Abgeordnetenhaus und 35 der 100 Sitze im Senat zur Wahl. Ebenfalls neu besetzt werden 13 Gouverneursposten auf bundesstaatlicher und territorialer Ebene sowie eine ganz Reihe von Parlamentsposten in den Bundesstaaten. Diese Wahlen in den US-Bundesstaaten wirken sich natürlich auch auf die Bundespolitik aus.
Die in den Bundesstaaten regierenden Parteien werden weitgehend die Festlegung der Wahlbezirksgrenzen des Repräsentantenhauses nach dem United States Census 2020 (der alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählung also) bestimmen. Die beiden großen Parteien setzen, sobald sie an der Macht sind, alles daran, die Wahlkreise so zuzuschneiden (genannt "gerrymandering"), dass sie selbst bei Wahlen möglichst im Vorteil sind. Seit den 1980er Jahren wird es durch bessere und preiswertere Kartierungssoftware immer einfacher, die Grenzen der Wahlkreise zu manipulieren. So entstehen Wahlkreise, deren geografische Form jeglicher Logik entbehrt – und immer mehr Abgeordnete werden in Wahlkreisen gewählt, die fest einer Partei zuzurechnen sind. Sie haben bei Wahlen kaum etwas zu befürchten – dafür aber umso mehr bei den Vorwahlen in der eigenen Partei.
Seit dem Census 2010 profitieren die Republikaner von der Wahlkreiseinteilung, da sie bei der letzten Neufestlegung der Wahlbezirksgrenzen in den meisten Bundesstaaten die Mehrheit hatten.[12] Nachdem mehrere dieser Grenzziehungen vor Gericht erfolgreich angefochten wurden, hat sich ihr Vorteil in den letzten Jahren leicht verringert. Bei den Zwischenwahlen 2018 errangen die Demokraten mit einem nationalen Stimmenanteil von 53,4 Prozent 235 oder 54 Prozent der Sitze im Repräsentantenhaus.[13] Einen Sitz zu verteidigen ist allgemein einfacher, als ihn neu zu erringen. Die Namen bereits gewählter Mitglieder des Repräsentantenhauses sind den meisten Wählern bereits von vorangegangenen Wahlen geläufig. Mitglieder des Repräsentantenhauses haben es meist auch leichter als ihre Herausforderer, Gelder für den Wahlkampf aufzutreiben.
Trotz der Vorteile der Amtsinhaberschaft werden die Kandidaten der Demokratischen Partei wohl etwas mehr Stimmen brauchen als die Republikaner, wenn sie die Mehrheit im Repräsentantenhaus 2020 nicht verlieren wollen. Der Vorteil der Republikaner lässt sich aber nur zum Teil durch den Wahlkreiszuschnitt erklären. Ein weiterer Faktor ist die starke Konzentration demokratischer Stimmen in den Städten. Nach den meisten Berechnungen vor den Zwischenwahlen 2018 mussten die Demokraten etwa 5 bis 7 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen mehr erringen, um als Mehrheitspartei in das Repräsentantenhaus einzuziehen.[14] Für 2020 dürfte nach unserer Einschätzung ein Vorsprung von 5 Prozent aller abgegebenen Wählerstimmen oder sogar leicht darunter ausreichen. Aber je geringer dieser Vorsprung ausfällt, desto stärker wird die Anzahl demokratischer Sitze von der geographischen Verteilung dieser Stimmen abhängen, sodass die Mehrheit der Demokraten im Repräsentantenhaus gefährdet wäre.
Wenn die Demokraten 2020 gewinnen, haben sie gute Chancen, ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus über längere Zeit festzuschreiben. Die Wahlbezirke werden erst 2022 erneut festgelegt, und im Vergleich zu 2010 ist bereits jetzt klar, dass ihre politische Ausgangsposition in den Bundesstaaten besser geworden sind.[15] In einem auf nationaler Ebene guten Jahr könnten die Demokraten natürlich auch bei Gouverneurs- und Parlamentsposten in den Bundesstaaten deutlich besser abschneiden, als es ohnehin bereits den Anschein hat. Das wird aber nicht zuletzt davon abhängen, wen sie für die Präsidentschaft ins Rennen schicken.
4. Drei mögliche Ergebniskonstellationen und wie und wann ihre Wahrscheinlichkeit
neu zu bewerten ist
Wahrscheinlichkeitsprognosen bedeuten oft Kompromisse. Manche Szenarien sind nützlich, um die Prognosegenauigkeit zu verfolgen. Damit nicht immer deckungsgleich sind die Ergebniskonstellationen an welchen die meisten Leute tatsächlich interessiert sind. So schließen beispielsweise unsere ursprünglichen US-Wahlprognosen, die wir intern vor einigen Monaten erstellt haben, nur drei klar umrissene Szenarien für die Präsidentschaftswahl ein. Für uns liegt die Wahrscheinlichkeit einer Wiederwahl Donald Trumps momentan bei 40 Prozent. Die beiden anderen Szenarien sind ein Wahlsieg seines/r demokratischen Herausforderers/in (50 Prozent) oder ein Wahlsieg eines/r anderen republikanischen oder parteilosen Kandidaten/in (10 Prozent). Wir hatten diese 10 Prozent-Kategorie damals vor dem Hintergrund eines noch recht vagen Impeachment-Verfahrens und der möglichen Entscheidung Trumps, aus gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht erneut zu kandidieren, eingeführt.
Für eine Anlageentscheidung sind diese Wahrscheinlichkeitsprognosen nicht besonders hilfreich. Ebenso gut könnte bei der Präsidentschaftswahl 2020 eine Münze geworfen werden. Denn laut unseren Szenarien haben die Demokraten gegenüber den Republikanern nur einen äußerst geringen Vorteil. Warum wir so denken, erklären wir in Abschnitt 5.
Unsere Wahrscheinlichkeitsprognose eines Trump-Sieges sagt überdies kaum etwas über die Politik aus, die der nächste Präsident umsetzen kann. Das wird zum Teil vom Abschneiden beider Parteien bei den Kongresswahlen abhängen. Unsere ursprünglichen US-Wahlszenarien haben aber auch einige Vorteile, die wir in Abschnitt 5 näher beschreiben.
Parallel dazu wollen wir aber drei etwas "benutzerfreundlichere" Ergebniskonstellationen vorstellen: Sie sind als repräsentative Auswahl möglicher Wahlausgänge 2020 zu betrachten, die bei Investmententscheidungen derzeit berücksichtigt werden sollten:
- "Trump-Triumph": Präsident Trump wird erneut gewählt, und die Republikaner erringen in beiden Häusern die Mehrheit – für dieses Konstellation sehen wir derzeit eine Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent. Für die Märkte könnte dies bedeuten, dass Steuerkürzungen wieder Thema sind. Die Deregulierung könnte ungehindert fortgesetzt werden. Dasselbe gilt aber auch für die angespannten Handelsbeziehungen.
- "Gemäßigte Mitte": Bei diesen Konstellationen käme es zu verschiedenen Kombinationen einer "geteilten" Regierung – die Wahrscheinlichkeit liegt bei 65 Prozent. Jede dieser Kombinationen würde sich stark auf einzelne Sektoren auswirken. Die Republikaner könnten zum Beispiel im Senat die Mehrheit behalten, das Weiße Haus aber verlieren. Sowohl Politikinteressierte als auch Frackingunternehmen dürften einen Riesenunterschied sehen zwischen dem aktuellen Status quo eines republikanischen Präsidenten mit einem demokratischen Repräsentantenhaus und beispielsweise der Aussicht auf einen neu gewählten Präsidenten Joe Biden, der die Deregulierungsmaßnahmen der Ära Trump rückgängig macht. Aber zumindest in den Monaten unmittelbar vor dem Wahltag dürfte die Aussicht auf ein derartiges Ergebnis die Finanzmärkte insgesamt weitgehend unbeeindruckt lassen.
- "Linke Lust": Demnach würde ein(e) weit links angesiedelte(r) und für eine progressive Politik eintretende(r) Kandidat(in) zunächst die Vorwahlen der Demokraten und dann die Präsidentschaftswahl gewinnen. Gleichzeitig müsste die Demokratische Partei die Mehrheit im Senat erringen und sie im Repräsentantenhaus verteidigen. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Ergebnis sehen wir derzeit bei 15 Prozent. Diese Aussicht würde die Märkte sicherlich aufschrecken – und es ist zudem äußerst wahrscheinlich, dass sich die Märkte irgendwann im Lauf des Wahlkampfs durch diese scheinbare Gefahr verunsichern lassen.
Aus Marktperspektive liegt der Vorteil dieser Denkweise darin, dass sich so ein Großteil der Turbulenzen im Umfeld der US-Politik ausblenden lässt, zumindest bis zum Beginn der heißen Wahlkampfphase um den Labor Day, der dieses Jahr auf den 7. September fällt. Bis dahin sind eigentlich, egal was passiert, nur zwei wichtige Fragen in die Überlegungen einzubeziehen: Erhöht ein Ereignis die Wahrscheinlichkeit eines "Trump-Triumphs" deutlich? Oder erhöht sich eher die Wahrscheinlichkeit einer "Linken Lust", unserer dritten Konstellation, bei der der/die Kandidat(in) der Demokratischen Partei aus dem linken Lager mit progressiven politischen Vorstellungen gewinnt und die Demokraten in beiden Kongresskammern die Mehrheit erringen?
Sie müssen wahrscheinlich nicht 24 Stunden lang den Newsticker verfolgen, um Ihr Portfolio rechtzeitig umzustrukturieren. Für unsere Konstellation "a", einen Sieg der Republikaner auf ganzer Linie, halten wir zwei Indikatoren für ausreichend aussagekräftig: Der erste Indikator wurde bereits erwähnt: die Zustimmungsquote für Trump.[16] Bei vergangenen Wahlen bestand immer eine starke Korrelation zwischen der Zustimmungsquote für den amtierenden Präsidenten und seinen Chancen auf eine Wiederwahl im November. Dasselbe trifft für den zweiten Indikator zu: die allgemeine Umfrage zur Kongresswahl, die sich ebenfalls mit einem Tracker von FiveThirtyEight verfolgen lässt: https://projects.fivethirtyeight.com/congress-generic-ballot-polls/. Hier werden Wähler gefragt, welcher Partei sie bei einer Kongresswahl ihre Stimme geben würden, ohne einen bestimmten Kandidaten zu nennen. Daraus lässt sich die Stimmung zugunsten der beiden Parteien insgesamt recht gut ablesen. Gleichzeitig lässt dieser Indikator auch Rückschlüsse darauf zu, wie die Chancen der Republikaner stehen, die Mehrheit im Repräsentantenhaus zurückzugewinnen. Ein grober Schwellenwert wäre für uns das Abschmelzen des Vorsprungs der Demokratischen Partei bei Umfragen zu den Kongresswahlen auf fünf Prozentpunkte oder weniger.
Dieses Signal bekäme eine besondere Bedeutung, wenn gleichzeitig die Zustimmungsrate für Präsident Trump bei den durchschnittlichen qualitätsgewichteten Umfrageergebnissen landesweit auf bis zu oder über 45 Prozent steigen würde. Diese beiden Tracker können zusammen wesentlich bei der Entscheidung helfen, ob und wann die Wahrscheinlichkeit eines republikanischen Siegs auf ganzer Linie (ähnlich dem Ergebnis von 2016) neu zu bewerten wäre. Natürlich würde auch ein derartiger Anstieg der Umfragewerte der Republikaner den Sieg noch nicht garantieren. In Abschnitt 5 gehen wir näher auf die Gründe ein, warum der Weg Trumps ins Wahlkollegium wohl extrem schmal bleiben wird, solange er es nicht schafft, seine Zustimmungsquote nahe an oder über 50 Prozent zu hieven. Ausgehend von den aktuellen Daten dürfte unsere Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent für Konstellation "a" etwas hoch gegriffen sein. Allerdings läuft der Wahlkampf auch gerade erst an. Vieles kann noch passieren, und Präsident Trump dürfte zumindest einen Teil der Themen bestimmen. Sollten seine Werte steigen, werden wir die Daten in Abhängigkeit vom Kontext und der Wahlkampfphase auswerten.[17] Aber bei einer tatsächlichen Wiederwahl Trumps ist nicht völlig auszuschließen, dass die Republikaner in seinem Windschatten auch die Mehrheit im Repräsentantenhaus zurückerobern.
Die Beobachtung des Kongress-Trackers und der Zustimmungsraten für Trump hat einen weiteren Vorteil: Sie liefert auch viele Voraussetzungen zur Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer "Linken Lust", unserer Konstellation "c". Zur Erinnerung: In diesem Fall wird der/die demokratische Kandidat(in) aus dem linken Parteispektrum mit progressiven politischen Plänen Präsident(in), und die Demokraten erringen in beiden Kammern, Repräsentantenhaus und Senat, die Mehrheit.
Die Wahrscheinlichkeit für dieses Ergebnis sehen wir derzeit bei 15 Prozent. Aus drei Gründen halten wir einen Sieg aus dem linken Spektrum für relativ unwahrscheinlich:
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Erstens: Der Kandidat der Demokratischen Partei müsste auch einen Wahlkampf mit sehr linken, progressiven Positionen führen (wollen). Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags könnte dies am ehesten der Fall sein, wenn Senator Bernie Sanders als Präsidentschaftskandidat nominiert wird. Bernie Sanders ist nicht einmal Mitglied der Demokratischen Partei, sondern beschreibt sich selbst als "demokratischen Sozialisten". Natürlich könnte auch ein anderer Kandidat als Bernie Sanders weiter nach links driften. Möglich wäre dies vor allem bei einer Nominierung von Senatorin Elizabeth Warren, wie ein Blick auf ihre bisherigen Positionen und Abstimmungsverhalten bestätigt. Ihre Aussichten haben allerdings in letzter Zeit etwas gelitten.
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Zweitens: Unabhängig davon, wer der Kandidat oder die Kandidatin sein wird, er oder sie müsste genügend Delegierte hinter sich scharen, um diese Positionen auf dem Parteitag der Demokratischen Partei (DNC)[18] bestätigt zu bekommen, ohne gemäßigte Demokraten einbeziehen zu müssen. Und der Widerstand gegen so einen drastischen Linksrutsch der Partei – ganz zu schweigen des ganzen Landes – dürfte groß sein, und nicht nur in demokratischen Kreisen. Dies hat sich in den bisherigen Debatten im Laufe der demokratischen Vorwahlen deutlich herauskristallisiert, wenn es beispielsweise um ein staatliches Gesundheitssystem oder kostenlose College-Ausbildung geht. Beide Senatoren, Elizabeth Warren und Bernie Sanders, unterstützen diese beiden Ziele, wenn auch unterschiedlich vehement, während die meisten anderen Kandidaten sie ablehnen.
- Drittens: Mit dieser progressiven Agenda müssten die Demokraten bei der Kongresswahl im November 2020 so erfolgreich sein, dass sie die Mehrheit in beiden Kammern erringen und ihre Agenda auch umsetzen können. Aber daran bestehen zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch große Zweifel. Außerdem ist das Risiko ziemlich hoch, dass gemäßigtere demokratische Kongressmitglieder derartige Bemühungen im Kongress nicht mittragen oder der Partei sogar ganz den Rücken kehren würden.
Das dritte Hindernis für einen Linksruck im Kongress hängt eng mit der allgemeinen politischen Stimmung zusammen, die vom Kongress-Tracker und Trumps Zustimmungsrate, oder besser gesagt Trumps Ablehnungsrate, erfasst wird. Je weniger beliebt Trump und andere Republikaner sind, desto leichter ist vorstellbar, dass sich die Wähler für eine radikale Alternative entscheiden. Wir bezweifeln allerdings, dass es so weit kommen wird.
Die Umfrageergebnisse lassen den Schluss zu, dass etwa zwei Drittel der demokratischen Wähler bei den Vorwahlen jemanden favorisieren, der Trump schlagen kann gegenüber jemandem, der in bestimmten Fragen "mit mir übereinstimmt" (also mit dem befragten Wähler).[19] Das ist einer der Hauptgründe für den guten Stand des ehemaligen Vizepräsidenten Joe Biden, für Aufstieg und Fall in den Umfrageergebnissen des jungen Bürgermeisters von South Bend (Indiana), Pete Buttigieg, für die jüngste Aufholjagd der Senatorin Amy Klobuchar aus Minnesota und den stetigen Aufstieg des ehemaligen Bürgermeisters von New York, Michael Bloomberg, der spät in das Kandidatenrennen eingestiegen ist. Sie alle wollen sich als Anhänger der gemäßigten Mitte präsentieren, besonders bei wirtschaftlichen Themen. Das Interesse, Trump zu schlagen und einen weitgehend zentristischen Kurs zu fahren, scheinen auch die Eliten der Partei zu teilen. Und wie die Politologen John Zaller, Hans Noel, David Karol und Marty Cohen in ihrem 2008 veröffentlichten, wegweisenden Buch "The Party Decides" argumentierten, hatten Parteieliten, von den Parteifreunden bis zu Geldgebern und Medienvertretern, bei den beiden großen Parteien schon immer einen recht großen Einfluss auf die Ergebnisse der Vorwahlen. Daher gewinnt in der Regel eine(r) der Kandidat(inn)en, dem/der man einen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen zutraut und der/die gleichzeitig mehr oder weniger auf Parteilinie ist.[20]
Natürlich ist der Wahlkampf für die Vorwahlen teilweise ein Test für die Meinung der Partei zu einem bestimmten Thema. Er kann auch erste Hinweise darauf geben, wie erfolgreich ein Außenseiter bei der Präsidentschaftswahl sein könnte. So hatte sich Donald Trump 2016 gegen den Freihandel ausgesprochen und diese Position zu einem seiner zentralen Alleinstellungsmerkmale gemacht. Den anderen republikanischen Kandidaten fiel es schwer, für die Wähler eine glaubwürdige Gegenposition aufzubauen, ohne dabei die Unterstützung der Wirtschaft zu verlieren. Trump sprach einen gewissen Typ der republikanischen Wählerbasis an, der sich von seinen Rivalen und anderen Amtsinhabern vernachlässigt fühlte. Dies wiederum lieferte wertvolle (und weitgehend unbeachtete) Hinweise darauf, wie Trump in den Bundesstaaten im Mittleren Westen abschneiden würde – 2016 konnte Trump bei der Präsidentschaftswahl hier punkten und so seinen Vorsprung im Wahlkollegium deutlich ausbauen.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung sollte, sobald die Vorwahlen bei den Demokraten beginnen, ein dritter Wert beobachtet werden, nämlich wie die weiter links positionierten Senatoren Bernie Sanders und Elizabeth Warren in den einzelnen Bundesstaaten abschneiden. Dabei werden wir uns vor allem darauf konzentrieren, wie Sanders und Warren gemeinsam prozentual in den einzelnen Bundesstaaten abschneiden, im Vergleich zu Sanders allein bei den Vorwahlen 2016, als er gegen Hillary Clinton antrat. Von besonderer Bedeutung bei der Bewertung der Wahrscheinlichkeit von Konstellation "c" ("Linke Lust") ist, wie diese beiden progressiven Kandidaten im Mittleren Westen und anderen umkämpften Staaten (den sogenannten "Swing States") abschneiden, vor allem in den Staaten mit offenen Vorwahlen, an denen alle Wähler eines Stimmgebiets teilnehmen dürfen. Sie könnten darauf schließen lassen, wie sich eine Verschiebung zu einer progressiveren Wahlplattform auf die Aussichten beider Parteien, die Wahl zu gewinnen, auswirken könnte.
Dies genau zu verfolgen könnte auch dazu beitragen, eine aus unserer Sicht recht wahrscheinliche plötzliche Neubewertung der Risikowahrscheinlichkeiten und die darauf folgenden Reaktionen besser einzuordnen. Unser Eindruck ist, dass manche Kollegen an der Wall Street die Chancen Donald Trumps auf eine Wiederwahl überschätzen. Dasselbe lässt sich vielleicht von New Yorks ehemaligem Bürgermeister Michael Bloomberg sagen. Trotz seiner jüngst steigenden Beliebtheit liegen seine nationalen Umfragewerte zu den Vorwahlen der Demokraten bei etwa 6 Prozent. Für jeden "normalen" Kandidaten wäre dies bei weitem zu niedrig, um überhaupt ernst genommen zu werden. Aber auch hier gilt: Kein anderer US-Präsidentschaftskandidat hatte je die Vorteile Bloombergs, einschließlich seines großen Vermögens und der Tatsache, dass er eines der führenden Nachrichten- und Medienunternehmen der Welt besitzt. Dennoch erscheint sein Weg zur Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten recht steinig.
Außerdem dürften die Märkte für die nur allzu vorhersehbaren Überraschungssiege links positionierter Kandidaten schlecht vorbereitet sein. Wir sprechen von "vorhersehbaren" Überraschungen, weil die Vorwahlumfragen, anders als die Umfragen für die Präsidentschaftswahl im November, häufig weit daneben liegen. FivethirtyEight zeigt in einer Analyse der Daten seit 2000, dass die Prognosefehler bei allen Vorwahlen im Durchschnitt bei sagenhaften 8,7 Prozentpunkten liegen.[9] Da sind Wahlüberraschungen äußerst wahrscheinlich. Einige davon dürften beinhalten, dass Bernie Sanders oder Elizabeth Warren in den Vorwahlen einzelner Bundesstaaten wesentlich besser abschneiden als erwartet.
Die Gesamtzahl ihrer Stimmen mit dem prozentualen Stimmenanteil von Sanders allein und der Zahl der ihn unterstützenden Delegierten 2016 zu vergleichen, sollte vermeiden, allzu viel in diese letzten Endes wahrscheinlich doch nur "Ausreißer" in den Bundesstaaten hineinzuinterpretieren. Andererseits sollten sich daraus auch wertvolle und rechtzeitige Hinweise ableiten lassen, falls eine "Linke Lust" wahrscheinlicher ist als wir derzeit annehmen. Beispielsweise könnten die Vorschläge von Elizabeth Warren zur Einführung einer Vermögenssteuer mehr Wählerstimmen bringen als den Experten im inneren Zirkel der Macht in Washington bewusst ist.
5. Einige abschließende Gedanken und eine Buchempfehlung
Wie bereits angekündigt, sind noch einige offenen Fragen zu beantworten. Im ersten Abschnitt argumentierten wir, dass Donald Trumps Sieg 2016 historisch gesehen wenig überzeugend war; er könnte also verwundbar sein. Im vierten Abschnitt schreiben wir wiederum, dass bei der Präsidentschaftswahl 2020 auch eine Münze geworfen werden könnte, da die Demokraten gegenüber den Republikanern nur einen äußerst geringen Vorteil haben. Der Hauptgrund für diese Diskrepanz liegt im Wahlkollegium.
In der aktuellen Wahlkampfphase ist das Wahlkollegium vor allem als Quelle einer enorm hohen Unsicherheit in beide Richtungen zu sehen. Noch ist es einfach zu früh, um zu sagen, welche Partei 2020 von diesem Wahlverfahren bei der Präsidentschaftswahl profitieren wird. Ähnlich wie bei Umfragefehlern besagt die Tatsache, dass bei einer Wahl eine Partei oder ein Kandidat begünstigt wurde, nicht unbedingt etwas darüber aus, wie das Wahlkollegium bei der nächsten Wahl aussehen wird. Derartige Schlussfolgerungen stellen sich häufig als falsch heraus. "Vor der Wahl 2000 wurde spekuliert, dass Al Gore im Wahlkollegium gewinnen, bei der Anzahl aller landesweit abgegebenen Stimmen verlieren würde – genau das Gegenteil war der Fall."[8] 2004 hingegen profitierte der Kandidat der Demokraten, John Kerry, vom Wahlkollegium, die Präsidentschaft schien zum Greifen nah, obwohl er 2 Prozent weniger Wählerstimmen auf sich vereinigte als Bush. Ähnlich schnitt Barack Obama 2012 gegen Mitt Romney im Wahlkollegium wesentlich besser ab, als sein mit 3,9 Prozent eher knapper Vorsprung bei den Wählerstimmen vermuten ließ.[21] Und wie wir vor den Zwischenwahlen 2018 schrieben: "Wie war das doch 2016, als Hillary Clinton im Wahlkollegium angeblich nicht einzuholende Vorteile hatte? Das stimmte nur insofern, als, ausgehend von den Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen 2012, Clinton nicht nur ein Weg zur Mehrheit offen zu stehen schien. Die Unterstützung im Wahlkollegium schien recht hoch. Hingegen führte für Trump scheinbar kaum ein Weg zum Sieg."[22]
Ohne zu wissen, wen die beiden großen Parteien nominieren werden, ist schwer zu sagen, welches Muster des Wahlkollegiums aus den oben erwähnten Jahren 2020 greifen wird. Zudem sind die niedrigen Zustimmungswerte für Trump von deutlich unter 50 Prozent ein weiterer Unsicherheitsfaktor, auch wenn sein(e) Gegenspieler(in) letzten Endes so unbeliebt sein sollte wie 2016 Hillary Clinton. Ein interessantes Merkmal der Präsidentschaftswahl 2016, das viele US-Beobachter nicht ganz auf dem Schirm zu haben scheinen, ist die entscheidende Rolle, die parteilose Kandidaten bei dieser Wahl spielten – und genau deshalb war der Ausgang so viel schwerer vorherzusagen als 2012.
2012 gewannen die Sieger bei allen 56 Abstimmungen für das Wahlkollegium (d.h. in den 48 "Winner-Takes-All"-Staaten sowie in Washington D.C. und den Kongressbezirken in Maine und Nebraska, wo einige Wahlleute auf Bezirksebene und einige auf Ebene des Bundesstaats gewählt werden) mit jeweils über 50 Prozent. (Am knappsten fiel der Sieg Obamas in Florida mit 50,01 Prozent der Stimmen gegen Romney mit 49,13 Prozent aus.) Für den einzelnen Wähler hätte es hier also keinen Unterschied gemacht, die Wahlabsichten aller anderen Wähler zu kennen. Es war für jeden Wähler sinnvoll, unter den verfügbaren Optionen seine "wirkliche" Präferenz zu wählen.
2016 hingegen erreichte in 15 Fällen der "Sieger" weniger als 50 Prozent der in diesem Bundesstaat oder Wahlbezirk abgegebenen Stimmen. Dies entspricht 157 Wahlleuten von 538, also bei weitem genug für einen Erdrutschsieg Clintons oder Trumps. Aber das Ergebnis dieser 15 Wahlen war äußerst unsicher. In den 14 Bundesstaaten sowie im zweiten Kongressbezirk von Nebraska waren sowohl Trump als auch Clinton so unbeliebt, dass sich genügend Wähler stattdessen für den parteilosen Kandidaten oder den Kandidaten einer anderen Partei entschieden, sodass weder Trump noch Clinton 50 Prozent erreichen konnten.
Dabei handelte es sich in den meisten Fällen um eine Protestwahl – keiner dieser anderen Kandidaten hatte realistische Chancen, ins Wahlkollegium, geschweige denn zum US-Präsident, gewählt zu werden. Eine interessante Ausnahme war Utah, wo sich der gegen Trump angetretene Republikaner Evan McMullin als unabhängiger Kandidat zur Wahl stellte. Das Endergebnis in Utah lag bei 45 Prozent für Trump, 27 Prozent für Clinton, 22 Prozent für McMullin, und die restlichen Stimmen verteilten sich auf mehrere weitere Kandidaten. Dieses Beispiel zeigt sehr gut, warum in vielen Wahlsystemen die 50-Prozent-Marke ein so wichtiger Schwellenwert ist. Theoretisch gab es genügend Clinton- und McMullin-Wähler, um Donald Trump den Sieg zu verwehren. Dazu hätten sich natürlich viele Wähler nicht nur von ihrer "wirklichen" ersten Präferenz leiten lassen dürfen, sondern taktisch wählen müssen. Die Motivation dazu hing aber stark von der Einschätzung des Verhaltens anderer Wähler ab – sowohl in Utah als auch im Rest der USA.
Wie sich am Ende herausstellte, spielte Utah allein 2016 im Wahlkollegium keine Rolle. Um Trumps Sieg in Utah zu verhindern, hätten beinahe alle Wähler, die entweder für McMullin oder für Clinton gestimmt hatten, taktisch wählen und ihre Stimme einem Kandidaten geben müssen, der nicht wirklich ihre erste Wahl war.
Aber stellen wir uns jetzt einen US-Bundesstaat vor, in dem Trump 47,5 Prozent der Wählerstimmen erringt, Clinton 47,3 Prozent und der drittplatzierte Kandidat 3,6 Prozent. Genau diese Situation hatten wir in Michigan, und der drittplatzierte Kandidat war Gary Johnson von der Libertarian Party. In diesem Fall ist es durchaus vorstellbar, dass sich am Morgen danach genügend Johnson-Wähler grün und blau geärgert haben, weil genau ihre Stimme Trump zur Präsidentschaft verholfen hat. Das Gleiche ließe sich wahrscheinlich auch von Wählern sagen, die für die Kandidatin der Grünen Partei Jill Stein (1,1 Prozent), für den bereits erwähnten konservativen Trump-Gegner McMullin (0,2 Prozent) und andere (0,4 Prozent) gestimmt hatten. Aber zu 2016 gibt es noch mehr zu berichten: In fünf US-Bundesstaaten errang Clinton einen Stimmenanteil von unter 50 Prozent; hätten die Wähler anderer Kandidaten für Trump gestimmt, wäre das Ergebnis auch dort völlig anders gewesen. So gaben beispielsweise in Minnesota 46,4 Prozent der Wähler ihre Stimme Hillary Clinton, Trump erhielt 44,9 Prozent der Stimmen, Gary Johnson 3,8 Prozent.
Der Ausgang solcher Wahlen ist per se schwer vorherzusagen. Schließlich hängt die Entscheidung, gegen den vermeintlich Erstplatzierten zu stimmen, auch davon ob, wie sicher man ist, dass dieser auch gewinnt. Je unsicherer man ist, desto eher ist man geneigt, taktisch zu wählen. In diesem Sinne profitierte Trump wohl von der anfänglich angenommenen Unwahrscheinlichkeit seines Wahlsiegs und nicht nur deshalb, weil dies zu einer niedrigeren Wahlbeteiligung mancher demokratischer Wählergruppen beigetragen haben mag. Ausgehend von den Ergebnissen Donald Trumps 2016 ist es unmöglich zu sagen, ob er am Tag nach seinem am 8. November 2016 entgegen allen Vorhersagen errungenen Wahlsieg noch einmal gewonnen hätte – selbst wenn am 9. November genau dieselben Wähler zur Wahl gegangen wären.
Unserer Ansicht nach macht gerade das Erkennen und Akzeptieren derartiger Unwägbarkeiten eine gute Prognose aus. Es beginnt schon damit, wie Szenarien für Prognosen und Nachverfolgung aufgebaut sind. Daher sollten Szenarien der MECE-Regel folgen – sich gegenseitig ausschließend und insgesamt erschöpfend ("mutually exclusive and collectively exhaustive") sein, um einen von McKinsey geprägten Begriff zu verwenden. Mit ihrer Hilfe sollte sich auch eindeutig feststellen lassen, ob das Ergebnis letzten Endes der Prognose entspricht oder nicht.
In diesem Sinne sind unsere anfänglichen, einfachen Szenarien für die Präsidentschaftswahl (Trump, der demokratische Kandidat oder ein anderer Kandidat gewinnt) nützlich für uns, weil sie alle Möglichkeiten abdecken und wir am Schluss sagen können, ob wir recht hatten. Auch für unsere "benutzerfreundlicheren" Ergebniskonstellationen "a", "b" und "c", die wir in Abschnitt 4 vorgestellt haben, war unser Anspruch, die MECE-Regel anzuwenden. Aber es ist ein ganzes Stück schwieriger und erfordert, für unsere Konstellation "c" der "schwammigen Mitte" eine große Menge möglicher Wahlausgänge mit einzuschließen.
Zusätzlich sei bemerkt, dass die Märkte überschätzen dürften, welchen Schaden oder Nutzen ein neuer Präsident bringen könnte. Besonders wenn die Partei des Präsidenten nicht die Mehrheit im Kongress hat, ist seine oder ihre Wirkung auf die US-Wirtschaft und die Aktienmärkte in der Regel indirekt, marginal und zeitverzögert. Dies ist einer der Gründe, warum nur wenige US-Präsidenten sich auf Rekordstände am Aktienmarkt als Beweis ihres Erfolgs berufen haben. Der Amtsinhaber wird schnell zum Sündenbock, wenn die Märkte ins Straucheln geraten. Auch deshalb könnten wir uns vorstellen, dass das Vertrauen der Märkte in den von Experten so geliebten "Trump Put"[23] 2020 auf die Probe gestellt wird.
Wahlkommentatoren, wie man sie aus dem Fernsehen kennt, genießen bei Prognostikern nicht den allerbesten Ruf. In der Regel zaubern sie eine oder mehrere tolle Ideen, Konzepte oder Grundüberzeugungen aus dem Hut und wenden diese auf jedes Prognoseproblem an, das auftritt. Wenn diese Prognose dann nicht eintritt, versteifen sie sich noch mehr auf ihre Analyse – auch, wenn immer mehr dafür spricht, dass sie auf dem Holzweg sind. Und was noch schlimmer ist: Sie gehen geschickt den Tests aus dem Weg, die belegen könnten, dass die von ihnen gehätschelte Prognose falsch ist.
Wie der Psychologe Philip Tetlock in seiner wegweisenden Forschungsarbeit argumentiert, ist das genau das Gegenteil davon, was eine gute Prognose ausmacht.[24] Tetlock versuchte, mit Hilfe verschiedener, von 1984 bis 2003 durchgeführter "Prognoseturniere" zwei Fragen zu klären. Erstens: Wie gut schnitt der durchschnittliche Politikexperte bei der Prognose ab? Und zweitens: Waren einige Experten bessere Prognostiker als andere?
Die Antworten auf beide Fragen fielen recht überraschend aus: Sehr viele hoch bezahlte Experten waren bei der Erstellung von Prognosen nicht besser als ein Algorithmus, der eine zufällige Wahrscheinlichkeitsverteilung vornahm. Etwas provokativ, aber vielleicht nicht besonders weise, beschrieb Tetlock dieses Ergebnis damit, dass die Trefferquote des durchschnittlichen Experten bei der Erstellung von Prognosen nicht höher läge als die eines Pfeile werfenden Schimpansen. Diese Feststellung lenkte die Aufmerksamkeit leider von seinem zweiten und wohl bedeutsameren Ergebnis ab: Einige Experten waren tatsächlich ziemlich gut, und sie schienen bestimmte kognitive Eigenschaften aufzuweisen.
Gute Prognostiker stützen sich in der Regel auf zahlreiche Quellen, haben kaum vorgefasste Meinungen und versuchen aus früheren Prognosen zu lernen, sodass sich die Treffsicherheit ihrer Prognosen im Laufe der Zeit erhöht. In anderen Worten: Sie sind bereit, ihre Einschätzung zu aktualisieren, wenn sich die Daten ändern, aber auch nicht allzu häufig.
Tetlock kam zu dem Schluss, dass diese mentale Einstellung in sehr vielen Prognosebereichen nützlich sein kann. Und laut Tetlock sind diese Verhaltensweisen durchaus erlernbar. Die Treffsicherheit kann sogar noch gesteigert werden, wenn mehrere gute Prognostiker in Teams zusammenarbeiten. Er fasste seine Ergebnisse in einem gut lesbaren Buch zusammen, das gerade rechtzeitig für unsere Wahlprognose 2016 veröffentlicht wurde und seitdem zur ständigen Quelle der Inspiration für unser Team wurde. Der Titel des Buchs ist: "Superforecasting. Die Kunst der richtigen Prognose".[25] Seine Lektüre sei jedem ans Herz gelegt, der mit Prognosen seinen Lebensunterhalt verdient – inklusive denjenigen, die das Geld anderer verwalten. Dieses Buch wird hoffentlich uns und vielleicht auch Ihnen 2020 und darüber hinaus gute Dienste leisten – unabhängig davon, wer im November 2020 letztendlich gewinnt.
1. Alle historischen Daten beruhen auf Informationen der Federal Election Commission unter: https://www.fec.gov/introduction-campaign-finance/election-and-voting-information/
2. S. https://www.dws.com/de/insights/cio-view/emea-de/praesidentschaftswahlen-2016-in-den-usa/?setLanguage=de; Dieser Beitrag ist immer noch lesenswert, vor allem mit Blick auf manch längerfristige strukturelle Trends, die im Rahmen unseres aktuellen Beitrags nicht behandelt werden können.
3. https://www.thedailybeast.com/for-us-presidents-odds-for-a-second-term-are-surprisingly-long?ref=scroll
4. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Senatoren – also 67, wenn alle abstimmen – wäre erforderlich, um Trump schuldig zu sprechen und ihn seines Amtes zu entheben.
5. S. https://www.dws.com/de/insights/cio-view/emea-de/us-zwischenwahlen-2018/?setLanguage=de Auch dieser Beitrag ist immer noch lesenswert, nicht zuletzt deshalb, weil er zeigt, wie gut unsere eigenen Prognosen waren.
6. https://fivethirtyeight.com/features/the-polls-arent-skewed-trump-really-is-losing-badly/
7. Ein Beispiel für derartige Hinweise findet sich bei den britischen Parlamentswahlen 2019. Während des letzten Wahlkampfs konnte etwa jeder fünfte Labour-Wähler die Frage nach seiner Wahlentscheidung 2017 nicht richtig beantworten. Diese bewusste (oder vielleicht sogar eher unbewusste) "Kaufreue", mit der in der Verkaufspsychologie die Unsicherheit eines Kunden nach dem Erwerb einer Leistung bezeichnet wird, bot einen frühen, und wie sich später herausstellte, verlässlichen Hinweis auf den unerwartet starken Stimmenverlust der Labour Party in vielen Wahlbezirken, die seit Jahrzehnten Labour-Hochburgen waren. Nähere Einzelheiten unter https://dws.com/de/insights/cio-view/cio-flash/cwf-2019/johnson-geht-gestaerkt-in-die-naechste-Runde/?setLanguage=de
8. https://fivethirtyeight.blogs.nytimes.com/2012/09/29/poll-averages-have-no-history-of-consistent-partisan-bias/
9. https://fivethirtyeight.com/features/the-polls-are-all-right/
10. https://fivethirtyeight.com/features/the-state-of-the-polls-2019/
11. Wie bereits erwähnt, haben die Republikaner derzeit im Senat 53 Sitze. 45 der Senatoren gehören der Demokratischen Partei an, zwei Senatoren sind parteilos, Bernie Sanders (Vermont) und Angus King (Maine), die sich bei Abstimmungen der Demokratischen Partei anschließen. Somit haben wir letzten Endes ein Stimmenverhältnis von 47 zu 53. Alle Informationen zur Sitzverteilung im Kongress und den Wahlergebnissen stammen, wenn nicht anders angegeben, von https://ballotpedia.org, wo viele nützliche Daten zu finden sind.
12. So konnten die Republikaner bei den Wahlen 2012 bzw. 2014 etwa 3,8 Prozent bzw. 4,4 Prozent mehr Sitze im Repräsentantenhaus gewinnen, als ihnen nach den nationalen Zahlen eigentlich zustanden. Nähere Einzelheiten unter Trende, Sean: "The Myth of Democrats' 20-Million-Vote Majority," RealClearPolitics; Stand: 05.01.2015
13. In eben diesem Jahr errangen die Republikaner 199 Sitze im Repräsentantenhaus. Die Summe der Sitze ergibt nicht 435 – der Grund liegt in der Annullierung der Ergebnisse des 9. Kongresswahlbezirks in North Carolina, nachdem Unregelmäßigkeiten bei der Wahl festgestellt worden waren. Dies führte zu einer Sonderwahl im September 2019, die der Kandidat der Republikaner gewann.
14. Nähere Einzelheiten zu den Zwischenwahlen 2018 in: https://www.dws.com/de/insights/cio-view/emea-de/us-zwischenwahlen-2018/?setLanguage=de.
15. Von den 43 Gouverneursposten, die 2020 nicht neu besetzt werden, sind beispielsweise 23 von Demokraten und nur 20 von Republikanern besetzt.
16. Der FiveThirtyEight Trump Approval and Disapproval Tracker ist zu finden unter: https://projects.fivethirtyeight.com/trump-approval-ratings/?ex_cid=rrpromo
17. Vieles kann bis zum November passieren, und von einigen Ereignissen könnte durchaus eines unserer extremeren Szenarien profitieren. Aber wirklich einschneidende Ereignisse dürften sich auch in den Umfragewerten niederschlagen. Eine Gegenreaktion gegen das Impeachment-Verfahren könnte beispielsweise den aktuellen Vorsprung der Demokraten von 6,7 Prozent im Kongress-Tracker abschmelzen. Würden die Wahlen schon am Dienstag stattfinden, wäre die Wahrscheinlichkeit einer Republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus nach diesem Indikator allein geringer.
18. Die Democratic National Convention (DNC) ist der Parteitag der Demokratischen Partei in den USA, der alle vier Jahre im Sommer vor den Präsidentschaftswahlen stattfindet. Diese Versammlung bestätigt die Nominierung des Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei und legt das Wahlprogramm fest.
19. https://fivethirtyeight.com/features/issues-voters-see-the-race-differently-from-those-who-prioritize-beating-trump/
20. Vgl.: Cohen, Marty et al.(2008): "The Party Decides: Presidential Nominations Before and After Reform", Chicago Studies in American Politics, University Of Chicago Press
21. 2012 erhielt Obama 332 Stimmen des Wahlkollegiums, Mitt Romney 206 Stimmen – also bei weitem mehr als Trump 2016 mit 304 Stimmen.
22. S. https://www.dws.com/de/insights/cio-view/emea-de/us-zwischenwahlen-2018/.
23. "Trump Put" steht für die weit verbreitete Auffassung, dass Trump, der sich die gute Entwicklung der Aktienmärkte seit seiner Amtsübernahme auf die eigenen Fahnen schreibt, einen Zusammenbruch des Marktes nicht zulassen würde.
24. Tetlock, Philipp (2005): "Expert Political Judgement: How Good Is It? How Can We Know?", Princeton University Press
25. Philip E. Tetlock/Dan Gardner: "Superforecasting. Die Kunst der richtigen Prognose", S. Fischer Verlag (2016)