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- Politisch heiße Eisen, wohin man schaut
- Wahlen sind zu einem zentralen Thema auf dem Markt für 2024 geworden. Dies spiegelt teilweise die Ängste der letzten Jahre wider.
- Mittelfristig erwarten wir, dass die Aktienmärkte der Industrieländer zu der Normalität zurückkehren, die vor 2016 bestand.
- Wir gehen davon aus, dass die Aktienkurse wieder hauptsächlich auf unternehmensspezifischen Informationen und nicht auf politischen Überlegungen basieren werden.
Lange bevor der aktuelle US-Wahlkampf richtig in Gang kam, haben wir Wahlen als ein zentrales Marktthema für 2024 bestimmt. Schon in unserem Jahresausblick argumentierten wir, dass 2024 wahrscheinlich ein ungewöhnlich politisches Jahr werden würde, in dem die Märkte den Wahlausgängen ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit schenken würden. Kürzlich haben wir unsere Erwartungen für die kommenden zwölf Monate aktualisiert. Damit scheint jetzt ein guter Zeitpunkt gekommen zu sein, um eine Bestandsaufnahme der bisherigen Erkenntnisse bezüglich politischer „hot topics“ vorzunehmen.
Wie aufmerksame Beobachter schon frühzeitig festgestellt haben, ist das laufende Jahr in Bezug auf den Anteil der Menschen, die ihre Stimme abgeben, atypisch.[1] Denn mehr als vier Milliarden Menschen, d. h. mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, werden oder waren dieses Jahr wahlberechtigt.[2] Je nach genauer Definition sind das mehr als jemals zuvor innerhalb eines Jahres.[3] Sowohl die Feststellung des größten Wahljahres aller Zeiten als auch die scheinbar pedantische Definitionssuche sind bemerkenswert.
Aus Sicht der Märkte muss betont werden, dass das laufende Jahr in Bezug auf Wahlstimmen, keineswegs neu war. Der Anteil der Weltbevölkerung, der in freien und fairen Wahlen seine Stimme abgeben konnte, hat wohl irgendwann zwischen den frühen 1990er Jahren und der Finanzkrise 2008/2009 seinen Höhepunkt erreicht.[4] Das letzte Mal, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament mit den Präsidentschaftswahlen sowohl in den USA als auch in der Russischen Föderation zusammenfielen, war beispielsweise 2004.[5]
Was macht das Jahr 2024 also so besonders, dass wir bereits im November 2023 Wahlen als ein zentrales Thema genannt hatten? Das liegt nur zum Teil daran, dass die US-Präsidentschaftswahlen auf der Liste stehen. Diese sind in der Regel immer große Nachrichtenereignisse, zu denen jeder eine Meinung hat. Aber um ehrlich zu sein, war das Marktinteresse vor 2016 eher begrenzt und konzentrierte sich auf die Endphase des Wahlkampfs sowie die unmittelbare Zeit danach. 2016 war das Jahr des Brexit-Referendums im Vereinigten Königreich und des überraschenden und eher zufälligen Wahlsiegs von Donald Trump.[6] Seit 2016 ist das Interesse der Anleger an Wahlereignissen in entwickelten Demokratien generell recht hoch.
Um das anhaltende, historisch ungewöhnliche Maß an Aufmerksamkeit des Marktes für die Wahlpolitik besser zu verstehen und um abzuschätzen, wie lange es anhalten könnte, ist es ein wirksamer Ansatz, auf ein Wahlereignis zurückzugreifen, das sowohl bei Experten als auch bei Marktanalysten weitaus weniger Aufsehen erregte – die britischen Parlamentswahlen vom Juli 2024. Insgesamt war dies ein Rückfall in eine Ära der britischen Politik vor 2016, wobei der Wahlsieg der Labour-Partei von 1997 ein besonders treffender Vergleich ist. Es wurde allgemein vorhergesagt, dass eine unpopuläre, langjährige konservative Regierung verlieren würde, und das tat sie auch. Das britische Mehrheitswahlrecht, das die Schwankungen im Unterhaus verstärkt, verschaffte der neuen Regierung eine übergroße Mehrheit, obwohl verschiedene Umfragen während beider Wahlkampagnen darauf hindeuteten, dass die Erwartungen der Wähler an das neue Team eher gering waren. Der Wahlsieg der Labour-Partei folgte auf Jahre der Mäßigung, nachdem sie in die politische Bedeutungslosigkeit verbannt worden war. Doch obwohl das neue Kabinett viel Zeit zur Vorbereitung hatte, war es bald in Skandale verwickelt und sah sich mit Vorwürfen der Korruption in der Regierung konfrontiert.[7]
Und die Märkte? Nun, lange vor Beginn der Abstimmung hatten Aktienanleger signalisiert, dass sie die Aussichten auf eine langweiligere, vorhersehbarere Politik durchaus begrüßten. Während und nach den Turbulenzen der Brexit-Jahre wurden britische Aktien im Vergleich zu ihren Pendants zunehmend unterbewertet. Zwar gibt es eine gesunde Debatte darüber, inwieweit die Underperformance des Londoner Aktienmarktes auf politische Faktoren zurückzuführen ist, doch wird sie auch von strukturellen Faktoren beeinflusst, wie z. B. der Sektorzusammensetzung der wichtigsten Londoner Indizes.[8] Zur britischen Unterhauswahl 2024 selbst fielen die Marktreaktionen gemächlich und moderat aus. Stattdessen richtete sich die Aufmerksamkeit der politisch interessierten Marktkenner schnell auf die andere Seite des Ärmelkanal, nach Frankreich. Der unerwartete Aufruf von Präsident Emmanuel Macron zu Parlamentswahlen kam nach den herben Verlusten seiner Verbündeten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament.[9] Die Nachricht von der vorgezogenen Wahl zur Nationalversammlung, der dominierenden Kammer des Parlaments, löste starke Abverkäufe von französischen Aktien und Anleihen aus, insbesondere zwischen der ersten Runde mit geringer Wahlbeteiligung und der entscheidenden zweiten Runde mit viel höherer Beteiligung.[10] Danach kamen die Aktienanleger schnell zu der Einsicht, dass sich eigentlich gar nicht so viel geändert hatte, während die Anleiheinvestoren weiterhin über die längerfristigen Aussichten für die französischen Staatsfinanzen besorgt waren.[11]
All dies ist typisch dafür, wie Märkte über Politik "denken". Eine Analogie dazu wären Ansätze der künstlichen Intelligenz (KI), die sich ebenfalls auf die Mustererkennung stützen. Wenn beispielsweise Marktteilnehmern eine repräsentative Stichprobe von Mustern für bestimmte Probleme, die entscheidend genug sind, um Gewinne zu erzielen, zur Verfügung gestellt wird, zeigen sie sich oft erstaunlich kompetent in Prognosen. Mit der Zeit werden Märkte und maschinelle Lerntechniken immer zuverlässiger darin, zukünftige Ereignisse basierend auf Erfahrungen aus der Vergangenheit vorherzusagen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Zukunft der jüngsten Vergangenheit ausreichend ähnelt. Weichen diese Bedingungen jedoch ab, können konventionelle Marktweisheiten genauso ungenau oder unsinnig sein wie die KI-Halluzinationen selbst eines hochmodernen Large Language Models (LLM). Dies kann beispielsweise passieren, weil es einfach keine Möglichkeit oder Motivation gibt, aus Vorhersagefehlern zu lernen.
Der Schlüssel liegt darin, sowohl über angemessene Daten als auch über geeignete Feedbackschleifen zu verfügen, damit Marktteilnehmer Muster erkennen und bewerten können. Wie Friedrich August von Hayek bemerkte, können Märkte verschiedenster Art fast wie „Zauberei“ wirken. Wie anders könnte man ihre bemerkenswerte kollektive Fähigkeit beschreiben, neue Informationen sowie oft implizites, auf Millionen von Menschen verteiltes Wissen zu erfassen und in Preissignale zu verdichten, die die Entscheidungsfindung leiten.[12] Es gibt weder a priori noch empirisch Grund zu bezweifeln, dass diese Marktmagie bei Politikprognosen genauso funktionieren kann wie bei Unternehmensereignissen. Von 1884 bis 1940 beispielsweise waren die Märkte für politische Wetten in den USA überaus liquide; und selbst in Abwesenheit zuverlässiger Meinungsumfragen leisteten sie bei 14 von 15 Präsidentschaftswahlen bemerkenswerte Arbeit, trotz der Merkwürdigkeiten des Wahlsystems der USA.[13] Das Gleiche gilt für ein ähnliches Vorhersageproblem aus etwa derselben Zeit in einem anderen Schwellenland: Wie gut die Aktienmärkte insbesondere die Risiken aufgrund der politischen Gewalt im zaristischen Russland eingepreist hatten.[14]
Heutzutage sind die Märkte für politische Wetten aufgrund rechtlicher Beschränkungen insbesondere in den USA weder besonders breit noch liquide.[15] Wie auf den herkömmlichen Finanzmärkten gibt es auf Wettmärkten in der Regel viele andere Themen, die die Teilnehmer berücksichtigen müssen. Darüber hinaus stellen die Seltenheit von Wahlen und die damit verbundene Unvorhersehbarkeit ihrer Ergebnisse eine große Herausforderung für die Entwicklung präziser Prognosefähigkeiten dar. Um in diesem Bereich erfolgreich zu sein, ist nicht nur umfassende Erfahrung über zahlreiche Wahlzyklen hinweg erforderlich, sondern auch ein tiefes Verständnis der Faktoren, die jedes einzelne Wahlereignis beeinflussen. Beispielsweise sind Wahlumfragen in Indien aufgrund der Heterogenität der riesigen indischen Wählerschaft, der politischen Voreingenommenheit der für die Durchführung von Umfragen zahlenden Nachrichtenagenturen sowie logistischer Probleme und rechtlicher Beschränkungen, die genaue Umfragen nahezu unmöglich machen, notorisch unzuverlässig. In Frankreich ist bekannt, dass die Wahlbeteiligung zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang manchmal dramatisch ansteigt, was zu sehr unterschiedlichen Wählerschaften führt. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass Marktkommentatoren frühe Umfragetrends aufgreifen, um die ohnehin gängige Meinung der Anleger zu bestätigen - nur um dann am Wahltag überrascht zu werden. Dieses Jahr bildeten Frankreich und Indien keine Ausnahme, und auch viele andere Beispiele wie Südafrika zeigen, wie schwierig es manchmal ist, die Auswirkungen auf die Märkte richtig zu interpretieren, selbst wenn die Ergebnisse bereits vorliegen, die Koalitionsbildung aber noch aussteht.[16]
Die daraus resultierenden Muster an den Märkten, die Generationen von Anlegern aufgrund ihrer Erfahrungen vor 2016 zu Erwarten gelernt hatten, basierten auf ihren Erfahrungen vor den marktbewegenden Überraschungen namens Trump und Brexit. Die Märkte waren damals gewöhnt, eine scharfe Trennung zwischen der Politik in Schwellen- und Industrieländern zu ziehen. Wie bereits Ende der 1990er Jahre in einer wissenschaftlichen Arbeit argumentiert wurde, scheint es systematische Unterschiede in der Art und Weise zu geben, wie politische Ereignisse jeweils wahrgenommen werden, je nachdem ob es ein Schwellen- oder Industrieland ist.[17] Um es etwas zu vereinfachen: Reife Demokratien befinden sich in der Regel in recht wohlhabenden Ländern, die über eine Reihe anderer Institutionen wie unabhängige Gerichte, funktionierende Rechtssysteme, eine lebendige, unabhängige Presse und zahlreiche Privatunternehmen verfügen. Was auch immer eine neue Regierung beschließt, kann durchaus von der nächsten Regierung wieder rückgängig gemacht werden. Infolgedessen zahlt es sich für die Anleger aus, Aktien hauptsächlich auf der Grundlage unternehmensspezifischer Informationen zu bewerten, was dazu führt, dass die Bewegungen der einzelnen Aktienkurse weniger stark mit dem Gesamtmarkt korrelieren. Mit zunehmender Reife der Märkte nehmen die Korrelationen tendenziell weiter ab (wie dies in den USA während eines Großteils des 20. Jahrhunderts der Fall war). In Ländern, in denen die Gesetze zum Schutz der Eigentumsrechte von Anlegern sowie das Rechtssystem schwach sind und die Regierungen relativ anfällig für Korruption und politisches Rent-Seeking, steht bei Wahlen deutlich mehr auf dem Spiel. Besonders besorgniserregend wird dies, wenn das Risiko eines Abgleitens in den Autoritarismus oder ein hybrides Regime nicht ausgeschlossen werden kann.
Um es auf den Punkt zu bringen: In den letzten Jahren haben sich die Märkte in Großbritannien und einigen anderen reifen Demokratien eher wie Schwellenländer entwickelt. Da die Politik nun wieder langweiliger wird, erwarten wir eine Rückkehr zu den Normen von vor 2016, bei der es sich für Anleger lohnen könnte, der Politik wieder weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Die Präsidentschaftswahlen in den USA im Jahr 2024 werden natürlich ein weiterer wichtiger Testfall für diese These sein. Dazu ein andermal mehr.