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- Auf die harte Tour lernen
- Wir gehen davon aus, dass die Stärke der US-Wirtschaft im bisherigen Jahresverlauf, die viele Beobachter, darunter auch uns, überrascht hat, wahrscheinlich nur von vorübergehender Natur sein wird.
- Das wiederum gibt Anlass zu unserer Vorsicht gegenüber riskanten Vermögenswerten wie Aktien.
- Wir überprüfen jedoch ständig die Annahmen, die dieser Aussage zugrunde liegen, im Lichte der eingehenden Daten.
Manchmal kann man Glück haben. Das ist in etwa die Logik, der sich die Finanzmärkte in den letzten Monaten im Hinblick auf die Rezessionsrisiken in den USA verschrieben haben. Die Hoffnung auf eine „sanfte Landung“ wächst. Dieser Begriff wird seit Mitte der 1990er Jahre verwendet, als es der Federal Reserve (Fed) gelang, die Inflation unter Kontrolle zu halten, ohne eine Rezession auszulösen. Für weitere Einzelheiten zur Einschätzung einiger der neuesten Zahlen im Hinblick auf die Rezessionswahrscheinlichkeit verweisen wir Sie auf unseren neuesten US-Wirtschaftsausblick.[1]
Hier möchten wir uns auf anderes konzentrieren. Klar ist die zunehmende Wahrscheinlichkeit einer „sanften Landung“ wichtig, nicht zuletzt für Leute wie uns, die ihren Lebensunterhalt unter anderem damit verdienen, „Rezessions“-Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und zu proklamieren. Für Normalverbraucher dürfte es diesmal eine Unterscheidung ohne allzu großen Unterschied werden. Die US-Wirtschaft dürfte sich entschleunigen. Ob man eine solche Schwächephase als Rezession bezeichnet oder nicht, hängt ebenso sehr davon ab, wer die Entscheidung trifft und wie, als von den zugrunde liegenden wirtschaftlichen Realitäten.[2] Unser Basisszenario bleibt – wenn Sie das schlechte Wortspiel entschuldigen – eine „sanfte Rezession“ irgendwann in diesem Winter, vielleicht beginnend im vierten Quartal oder etwas später. Die obige Debatte lenkt von einigen der schwierigeren Fragen ab, über die sich Anleger wirklich Gedanken machen sollten. Deshalb müssen wir wieder einmal über Sinn und Unsinn sprechen, was so langsam zu einer alljährlichen Tradition zu werden scheint.[3]
Wie viel von dem Unsinn, den Sie in den letzten Jahren gelesen haben, beginnt diese Debatte mit einer groben, oft recht vernünftigen Faustregel für Wirtschafts- und Finanzprognosen. Normalerweise ist es eine gute Idee, skeptisch gegenüber Marktgeschichten zu sein, die zu gut klingen, um wahr zu sein. Die Geldpolitik verringert den Inflationsdruck, indem sie versucht, das Wachstum über verschiedene Kanäle zu bremsen, von Hypotheken, die den Bau neuer Häuser weniger attraktiv machen, bis hin zu Krediten für Unternehmensinvestitionen und Kreditkartengebühren. Auf subtilere Weise stehen viele Haushalte bei der Zinswende jedoch auch auf der Gewinnerseite. Beispielsweise handelt es sich bei diesen Kreditkartengebühren um das Einkommen einer anderen Person, was letztendlich einigen Haushalten zugutekommt. In der Regel sind das dann reichere und älteren Haushalten, die möglicherweise weniger geneigt sind, diese Gewinne zu konsumieren.
Sich durch all diese verschiedenen Kanäle zu arbeiten und Näherungsgrößen zu finden, die den ökonometrischen Modellierern in der Vergangenheit gute Dienste geleistet haben, ist eine dunkle Kunst, deren Beherrschung Jahre, wenn nicht Jahrzehnte erfordert. Erfahrene Praktiker lernen, Abkürzungen zu nutzen, die sich in der Problemlösung bewährt haben, auch wenn sie in der Theorie wenig Sinn ergeben.
Allerdings wissen erfahrene Praktiker mit einer soliden theoretischen Grundlage zumeist, wann sie innehalten und die Verhaltensannahmen hinter ihren Modellen überdenken müssen. Zu wissen, wann dies zu tun ist, ist oft äußerst schwierig, selbst konzeptionell in der Wissenschaftsphilosophie.[4] Wann ist es an der Zeit, die eigene Weltsicht im Lichte der Beweislage zu überdenken, um die Welt danach besser zu verstehen?
Diese allgemeine Frage stellen sich viele Praktiker und Marktteilnehmer viel zu selten, wenn es um ihre Sicht auf die Finanzwelt geht. Bis es dann anders kommt als „alle“ denken und Marktreaktionen sie zur Aufmerksamkeit zwingen. Das ist einer der Gründe, warum die herkömmliche Meinung auf den Finanzmärkten so oft Dinge falsch „sieht“ und Unsinn (re-)produziert. Wenn genügend Praktiker bei derselben Frage den gleichen Denkfehler machen, haben sie Grund zu der Annahme, dass ihnen persönlich nicht viel passieren kann. Wenn „alle“ so argumentieren, dann macht es im Nachhinein auch wenig aus, wenn „alle“ falsch gelegen haben. Dabei entstehen dann die üblichen kognitiven Fehlleistungen, die wir in früheren Publikationen beschrieben haben.[5]
Diese Menschen haben sich selbst – und andere – davon überzeugt, dass „sanfte Landungen“ „empirisch“ schwer durchführbar und daher in den Jahren 2023 und 2024 unwahrscheinlich sind. Der „gesunde Menschenverstand“ trägt oft dazu bei.[6] Intuitiv scheint es für die Fed äußerst schwierig zu sein, eine „sanfte Landung“ zu erreichen. Müsste das nicht erfordern, dass die Fed – oder eine andere Zentralbank – alles genau richtig macht? Das scheint auf den ersten Blick schwer vorstellbar. Allein schon, weil ja zu ungünstigen Zeiten diverse Schocks auf der Angebotsseite drohen, egal was die Notenbank macht – von den Ölpreisen über Kriege bis hin zu Unterbrechungen von globalen Lieferketten. Intuitiv scheint es eine sichere Annahme zu sein, dass Zeiten der Ruhe, wie die Ära des langen, stabil wenig inflationären Wachstums bis zur globalen Finanzkrise von 2008, eher mit Glück als auch mit überlegener politischer Entscheidungsfindung zu tun haben. Ebenso intuitiv scheint die These, die scheinbare Stabilität auf Kosten der Zukunft erkauft sein kann, und Probleme auslöst, wenn eines Tages das Glück dann ausgeht.[7]
Wir haben sicherlich ein gewisses Verständnis für die Ansicht, dass Zentralbanker nie ganz so allwissend sind, wie einige gerne selbst denken.[8] Je nachdem, wie man sie definiert und einzelne Zyklen kategorisiert, sind sanfte Landungen in der jüngeren Wirtschafts- und Währungsgeschichte der USA jedoch gar nicht so selten.[9] Ein Moment des Nachdenkens lässt erahnen, warum. Wenn Überraschungen – sei es beim Angebot oder in Bezug auf Verhaltensänderungen oder Modellfehlkalibrierungen – zufällig sind, würde das darauf hindeuten, dass Glück – und Unwissenheit - aus der Sicht der Zentralbanker ungefähr genauso oft hilfreich wie schädlich sein werden.
Sorgfältiges Hinterfragen eigener Argumentationskette kann in solchen Fällen äußerst wertvoll sein. Vielen Anlegern ist es vielleicht egal, wo genau sie mit ihren Erklärungen falsch liegen, solange ein Denkfehler in der Praxis keine Rolle spielt. Es ist ihnen jedoch wichtig, wann und wie der Markt als Ganzes falsch liegen könnte. Das Wissen um die Fallstricke des gesunden Menschenverstandes und des intuitiven Denkens der meisten anderen Teilnehmer ist hierfür ein hilfreiches Werkzeug.
In Zeiten erhöhter Grundunsicherheit neigen Anleger und Unternehmen gleichermaßen dazu, instinktiv zu reagieren. Dies kann zu Ineffizienzen und Prognosefehlern führen. Wie der Ökonom Andrew Lo es gerne ausdrückt: „Finanzmärkte werden durch unsere Interaktionen bestimmt; wie wir uns verhalten; was wir lernen und wie wir uns aneinander und an die sozialen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und natürlichen Umgebungen, in denen wir leben, anpassen.“[10]
Solch ein kollektives Lernen funktioniert gut, wenn die Bedingungen stabil sind. Aber wenn die Welt von plötzlichen Schocks in Serie heimgesucht wird, von einer globalen Pandemie und einem Krieg bis hin zu einem seit Jahrzehnten nicht mehr beobachteten Inflationsanstieg, können sich die angenommenen Erwartungen stark von dem unterscheiden, was im Nachhinein rational erscheint. Wenn man noch Messprobleme und das Schwinden bisher verlässliche Korrelationen hinzunimmt, beispielsweise zwischen der Verbraucherstimmung und den tatsächlichen Ausgaben, ist die Sicht derzeit ungewöhnlich stark eingetrübt.[11] In Zeiten der Inflation ist es schließlich nicht ungewöhnlich, dass sich Verhaltensmuster ändern und möglicherweise auf eine Weise interagieren, die sich anhand historischer Daten nicht erraten lässt.
Hier sind solide theoretische Grundlagen und Kenntnisse der Wirtschaftsgeschichte hilfreich. Es zeigt sich, dass eine Entkopplung zwischen der investitionsgetriebenen Wirtschaftsdynamik einerseits und den Finanzmärkten und anderen Stimmungsindikatoren andererseits in Inflationsphasen weder ungewöhnlich noch theoretisch unplausibel ist.[12]
Dennoch bleibt unsere Hausmeinung vorsichtig, vor allem angesichts der zunehmenden Gegenwinde, mit denen die US-Verbraucher zu kämpfen haben. Anzeichen einer Abschwächung des Arbeitsmarktes kommen zu einer ganzen Reihe von Belastungen hinzu, die in den kommenden Monaten drohen, vom Anstieg der Rückzahlungen von Studentenkrediten über einen sich ausbreitenden Streik der Autoarbeiter bis hin zu höheren Energiepreisen. Unterdessen neigen wir dazu, die Stärke der US-Wirtschaft im bisherigen Jahresverlauf, die viele Beobachter, darunter auch uns, überrascht hat, wahrscheinlich nicht von Dauer sein dürfte.[13] Die Stärke spiegelte mehrere Faktoren wider, die nun wahrscheinlich verblassen dürften. Insbesondere Probleme wie der Zeitpunkt der Steuerzahlungen und höher als erwartete Defizite stützten den Konsum im ersten Halbjahr. Zusammen mit positiven Überraschungen bei volatilen Unternehmensinvestitionen wie Automobilen und Flugzeugen sowie starren Lagerbeständen im zweiten Quartal deutet dies für uns darauf hin, dass Aufwärtskorrekturen der Wirtschaftsleistung für 2023 zu Lasten eines schwächeren Wachstums zu Beginn des neuen Jahres gehen werden. Dies wiederum gibt Anlass zu unserer Vorsicht gegenüber riskanten Vermögenswerten wie Aktien.