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- Französische Verhältnisse
Eine der Kuriositäten der europäischen Politik ist, dass Wahlkämpfe in jedem der 27 Mitgliedsstaaten noch immer weitgehend eine nationale Angelegenheit ist. Die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) Anfang Juni sowie die vorgezogenen Wahlen in Frankreich am 30. Juni und 7. Juli sind Beispiele dafür. Um mit ersterem zu beginnen: Die Gesamtergebnisse entsprachen recht genau den guten, auf Umfragen basierenden Sitzprognosen; die paneuropäischen Abweichungen bei den 720 aufgestockten Mitgliedern des Europäischen Parlaments (MEP) beschränkten sich je Gruppe auf höchstens ein halbes duzend Sitze, d. h. weniger als 1 %.[1]Der Grund war wieder einmal, dass große Überraschungen auf nationaler Ebene weitgehend unkorreliert waren und dazu neigten, sich gegenseitig auszugleichen.
Wie unser „Chart of the Week“ zeigt, blieb der Stimmenanteil der Mitte-rechts-Fraktion EVP (Europäische Volkspartei) in etwa stabil, während er für die Mitte-links-Fraktion S&D (Sozialisten und Demokraten) auf der Grundlage vorläufiger Ergebnisse stieg. In Bezug auf die Sitze war allerdings das Gegenteil der Fall; die EVP schnitt in kleinen Mitgliedsstaaten wie Estland sehr gut ab, wo weit weniger Stimmen erforderlich sind, um einen Sitz im Europäischen Parlament zu erhalten.[2] Umgekehrt wurden die Stimmen der S&D weniger effizient verteilt als 2019, sodass ein höherer Stimmenanteil weniger Sitze bedeutete.[3] Liberale und Grüne verloren, egal wie man es dreht und wendet, wenn auch nach historisch starken Ergebnissen im Jahr 2019. Und am rechten Rand verlagerte sich der Schwerpunkt deutlich, wobei die nationalkonservative ECR (dominiert von Parteien, die dem russischen Einfluss gegenüber sehr misstrauisch sind) an Boden gewann und die russlandfreundlichere ID-Gruppe verlor.[4]
Gewinner und Verlierer der Wahlen zum Europäischen Parlament noch vorläufigen Stimmenanteilen
Quellen: Europe elects, DWS Investment GmbH; Stand: 19.06.2024
Auf den Märkten wie in der Politik zählen jedoch oft Wahrnehmungen mehr als Wahlrealitäten. Als der französische Präsident Emmanuel Macron beschloss, als Reaktion auf den zwar allgemein erwarteten, aber düsteren Absturz seiner Partei hin vorgezogene Parlamentswahlen auszurufen, gerieten sowohl die Aktien- als auch die Anleihenmärkte in Aufruhr. In gewisser Weise ist das durchaus verständlich. Die Staatsverschuldung Frankreichs liegt im Verhältnis zum BIP bei etwa 110 Prozent. Das Haushaltsdefizit betrug 2023 5,5 Prozent und wird auch in diesem Jahr voraussichtlich bei rund fünf Prozent liegen. Mit der Wiedereinführung der europäischen Haushaltsregeln (Staatsverschuldung unter 60 Prozent und Staatsdefizite unter 3 Prozent des BIP) wird Frankreich ein Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (EDP) einleiten. S&P hat das Rating Ende Mai von AA auf AA- gesenkt. Nichts davon sollte jedoch für die Marktteilnehmer eine Neuigkeit gewesen sein. Ebenso wenig wie die inhärente Schwierigkeit, die Ergebnisse der zwei Runden der Parlamentswahlen zur Nationalversammlung (AN), der dominierenden Kammer des Parlaments, vorherzusagen.
Seit 2022 haben Macrons Renaissance-Partei und ihre Verbündeten keine Mehrheit in der AN. Durch ein Einheitspakt zwischen vier linken Parteien am Donnerstag laufen die Macronisten Gefahr, von vielen Stichwahlen am 7. Juli ausgeschlossen zu werden, bei denen es stattdessen zu reichlich Duellen zwischen einer ungewöhnlich geeinten Linken und Marine Le Pens rechtsextremem Rassemblement National (RN) kommen könnte. Obwohl wir sehr skeptisch sind, was die Aussichten der RN auf eine absolute Mehrheit angeht, besteht eine gute Wahrscheinlichkeit für ein weiteres Patt im Parlament. Nach der französischen Verfassung könnte der Präsident 12 Monate lang keine erneuten Neuwahlen ausrufen. Für die kommenden Wochen erwarten wir, dass die Volatilität hoch bleibt.