07. Jun 2024 Amerika

Eine Regel reicht nicht aus

Wann und wie weit die US-Zinsen fallen sollten, ist derzeit eine ziemliche Ermessensfrage. Einfache geldpolitische Regeln bieten große Bandbreiten plausibler Schätzungen.

Vor zehn Jahren debattierte das US-Repräsentantenhaus über einen Gesetzentwurf, der die Freiheit der Federal Reserve (Fed) einschränken sollte, ihre Geldpolitik nach eigenem Ermessen zu gestalten.[1] Solche Vorschläge waren dereinst unter republikanischen Politikern sehr beliebt, unter vielen Ökonomen jedoch höchst umstritten.[2] Beide Perspektiven haben einen gewissen Reiz. In einer Welt, in der Politiker in Echtzeit genau wissen können, wie gut es der Wirtschaft geht und wie sich die Inflation gerade entwickelt, würde eine geldpolitische Regel, die sich einfach auf Daten stützt, die Geldpolitik vorhersehbarer machen und sie besser vor politischer Einflussnahme schützen.

Die bekannteste Regel dieser Art, die dem Gesetzesvorschlag des Repräsentantenhauses von 2014 zugrunde lag, wurde in den 1990er Jahren entwickelt und nach John Taylor benannt. Sie verwendet die Inflation und die Produktionslücke, ein Maß dafür, wie hoch die Gesamtnachfrage einer Volkswirtschaft im Vergleich zu den Produktionskapazitäten ist; wieviel also erzeugt werden kann, ohne dass sich die Inflation beschleunigt.[3] In den 15 Jahren vor der globalen Finanzkrise von 2008 schien diese Regel einigermaßen gut zu funktionieren. Doch während der globalen Finanzkrise brach die Produktion ein, die Preise sanken und verschiedene Versionen der Taylor-Regel forderten negative Zinssätze. Da eine Senkung der Zinssätze unter Null technisch schwierig ist, versuchte es die Fed mit zunehmend unkonventionellen Maßnahmen, wie quantitativer Lockerung.

Wann und wie weit die US-Zinsen fallen sollten, ist derzeit eine ziemliche Ermessensfrage

Quellen: Haver Analytics, DWS Investment GmbH; Stand: 04.06.2024

10 Jahre später rückt nun ein weiteres Problem bei der Bindung der Geldpolitik an Regeln deutlich in den Fokus: Sowohl Inflation als auch Wirtschaftswachstum können auf verschiedene Weise gemessen werden und sind anfällig für Datenrevisionen. Wirtschaftsdatenreihen enthalten auch viel zufälliges Rauschen, während einige wichtige Variablen (wie die Produktionslücke) nur geschätzt werden können.

Nimmt man nun die Inflation, gemessen am bevorzugten Maßstab der Fed, dem Kernpreisindex für persönliche Konsumausgaben (PCE), und eine Reihe vernünftiger Annahmen, einschließlich der Präferenz der Fed für Kontinuität, ergibt sich ein auf der Taylor-Regel basierender Leitzins (Federal Funds Rate)  von 5,27 Prozent – knapp unter dem aktuellen effektiven Leitzins. Aber wie lange sollte diese Regel noch gelten? Teilweise hängt das davon ab, wie schnell die hohen Zinsen auf den Arbeitsmärkten Wirkung zeigen. In unserem „Chart of the Week“ ziehen wir hierzu nur eine von vielen Möglichkeiten heran, um die Lage am Arbeitsmarkt einzuschätzen und berechnen daraus, wie hoch die Zinsen nun allein auf Basis der Arbeitsmarktentwicklung sein sollten. Nach dieser Berechnung müssten die Zinsen knapp unter 3 Prozent liegen, damit die Arbeitsmärkte mittelfristig zurück ins Gleichgewicht kommen.[4] Wir nehmen dazu an, die Fed habe in vergangenen Zyklen genau die gewünschte Wirkung erreicht und errechnen daraus, wie hoch die Zinsen nun allein mit Blick auf die Arbeitsmärkte sein müssten, nämlich knapp drei Prozent. Dabei haben wir eine engere Version der  In unserem Chart of the Week verwenden wir nur eine von vielen Möglichkeiten, die Lage des Arbeitsmarktes einzuschätzen und berechnen daraus, wie hoch die Zinsen nun allein auf Basis der Arbeitsmarktentwicklung sein sollten. Nach dieser Berechnung müssten die Zinsen knapp unter 3 Prozent liegen.

„Unter dem Strich ist die Geldpolitik zwar aus Arbeitsmarktperspektive eindeutig restriktiv, aber die aktuellen Inflationszahlen rechtfertigen noch keine Senkung“, argumentiert Christian Scherrmann, US-Ökonom bei DWS. „Kein Wunder, dass die Fed ausgewogene Risiken sieht und eingehende Daten genau und unvoreingenommen betrachtet.“ In der realen Welt voller Komplexität und Messfehler schien es immer eine schlechte Idee zu sein, die Fed an eine einzige geldpolitische Regel zu fesseln. Das andere Extrem ist jedoch wohl noch schlimmer: Man lässt gewählte Politiker direkt in die Zinsfestsetzung eingreifen, anstatt eine unabhängige Zentralbank zu haben, die sich öffentlich zu einem stabilen Rahmen bekennt und für die Erreichung ihrer geldpolitischen Ziele zur Rechenschaft gezogen wird.

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1. S. z.B. The Economist, Jul, 22 2014, “Free exchange - Monetary policy: Overruled. Republicans are fed up with central bank independence”, verfügbar unter Overruled (economist.com)

2. S. z.B. , Tony Yates,  Jan. 30, 2015, “No legislation on the Taylor Rule please”, verfügbar unter No legislation on the Taylor Rule please | longandvariable (wordpress.com)

3. Taylor, J. (December 1993). "Discretion versus policy rules in practice", verfügbar unter Document1 (stanford.edu).

4. Diese Berechnung verwendet ein eng gefasstes Maß für Personalengpässe. Wir haben dazu die gemeldete Arbeitslosenquote (U3) zugrunde gelegt und vorübergehende Entlassungen ausklammert.  Eine weitere wichtige von uns Annahme war, dass die Fed mit Zinserhöhungen in der Vergangenheit genau die gewünschte von ihr Wirkung auf den Arbeitsmarkt erzielt hat. Es ist zu beachten, dass solche Berechnungen sehr empfindlich auf diese Art von Kalibrierungsannahme reagieren.

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