- Home »
- Insights »
- CIO View »
- Chart of the Week »
- Protestwahlen auf europäische Art
Weniger als einen Monat vor den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) könnte man meinen, dass dieses eigentlich heiße Thema auch für die Finanzmärkten relevant sein müsste. Dem ist nicht so, und zwar unserer Meinung nach zu Recht. Dies lässt sich dadurch erklären, wie diese Wahlen funktionieren und wie das EP in die europäische Politikgestaltung passt.
Beginnen wir mit den Wahlen selbst. Vom 6. bis 9. Juni werden Wähler in 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) ihre Stimme abgeben. Wähler mit Wohnsitz außerhalb ihres Heimatlandes können entscheiden, ob sie sich in ihrem Gastland oder zu Hause für die Stimmabgabe registrieren. Aber nur wenige wissen, welchen Einfluss diese Entscheidung darauf hat, wie viel ihre Stimme zählt. Unser „Chart of the Week“ zeigt die Wohnbevölkerung pro Mitglied des EP (MdEP) in den verschiedenen Mitgliedsstaaten.
Ein anderer Blick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament
Quellen: Eurostat, DWS Investment GmbH; Stand: 01.01.2024
Wie wir bereits 2019, als das EP zuletzt zur Wahl stand, ausführlich erklärt haben, ist ein unterschätzter Aspekt der Wahlen zum (EP), dass sie über nationale Listen stattfinden.[1] Während alle Länder das Verhältniswahlrecht (verschiedene Varianten) anwenden, variieren die Einzelheiten zwischen den Mitgliedstaaten erheblich. In kleinen Ländern wie Malta und Luxemburg beispielsweise vertritt ein Europaabgeordneter typischerweise etwa 100.000 Einwohner. Im Vergleich dazu sind es in Frankreich mehr als 840.000 Einwohner pro Europaabgeordneter und in Deutschland 880.000 Einwohner.[2]
De facto handelt es sich bei den Wahlen für das EP um 27 weitgehend unkorrelierte nationale Wahlen in den verschiedenen Mitgliedstaaten. Entscheidend sind dabei häufig Proteststimmen gegen die jeweiligen Regierungsparteien auf nationaler Ebene, auch wegen der typischerweise geringen Wahlbeteiligung. Aber weil die Macht innerhalb der 27 Länder auf nationaler Ebene so stark zwischen verschiedenen – in der Regel Koalitionsregierungen – aufgeteilt ist (die oft rechte oder rechtsextreme Parteien umfassen oder sogar von ihnen angeführt werden), neigt das Protestverhalten dazu, sich auf europäischer Ebene gegenseitig auszugleichen. Ähnlich ist es mit kurzfristigen Änderungen in der politischen Wetterlage auf nationaler Ebene.
Auch die Qualität der Umfragen variiert stark zwischen (und innerhalb) der einzelnen EU-Länder. Die meisten Sitzprognosen auf europäischer Ebene basieren in der Regel auf nationalen Umfragen zur Sonntagsfrage für nationale Parlamente.[3]In einigen Ländern wie Estland neigen die Wähler jedoch dazu, sehr stark zu differenzieren, wenn Meinungsforscher sie – vergleichsweise selten, nach ihren Wahlabsichten speziell für das EP befragen.[4] Das alles bedeutet, dass es auf nationaler Ebene zwar große Überraschungen geben kann, die Ergebnisse für das EP als Ganzes jedoch typischerweise im Rahmen der Erwartungen ausfallen. Sie können immer noch große Veränderungen für bestimmte Sektoren oder Segmente mit sich bringen, aber vor allem durch das Zusammenspiel europäischer und nationaler Politik. Beispielsweise wird der Wahlausgang dazu beitragen, die Zusammensetzung der Europäischen Kommission zu bestimmen. Das nächste EP dürfte der europäischen Klimatransformationsagenda der aktuellen Kommission skeptischer gegenüberstehen.
Gut möglich, dass sich daraus beträchtliche Auswirkungen auf Bereiche wie die europäischen Strom- und CO2-Preise ergeben. Wie genau die aussehen werden, wird jedoch auch entscheidend davon abhängen, wie die Europawahlen die Politik auf nationaler Ebene beeinflussen, insbesondere für die Langlebigkeit der ungeliebten deutschen Koalitionsregierung und die Position von Emmanuel Macron in der französischen Politikgestaltung. In den meisten Politikbereichen ist der Einfluss des EP mittlerweile gleichberechtigt mit dem Europäischen Rat (bestehend aus den Regierungschefs der einzelnen Mitgliedstaaten).[5] Aber was die Wahlen betrifft, so besteht einer ihrer Haupteinflusskanäle darin, wie überraschende Europawahlergebnisse in den einzelnen Mitgliedstaaten die jeweilige nationale Politik weit über Juni 2024 hinaus beeinflussen könnten.