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- Lohnwachstum ist nicht immer Grund zur Sorge
In seinem Klassiker „Butterfly Economics“ aus den 1990er-Jahren beschreibt der Ökonom Paul Ormerod, wie unvorhersehbar komplexe Systeme kurzfristig sein können. Potenziell hat das große Auswirkungen auf Beschäftigung, Inflation, Produktivität und Geldpolitik. „Die gleichen Werte für Variablen, von denen man annehmen könnte, dass sie Inflation verursachen, können sich in verschiedenen historischen Kontexten in sehr unterschiedlichen Werten für die Inflationsraten widerspiegeln.“[1]
Dies mag erklären, warum die US-Arbeitsmärkte seit Beginn der Covid-19-Pandemie regelmäßig – und in vielerlei Hinsicht – überrascht haben. Unser „Chart of the Week“ zeigt den aktuellen Stand zu einem besonders interessanten Phänomen: wie unterschiedlich sich die durchschnittlichen Stundenlöhne entwickelt haben, je nachdem, ob Arbeitnehmer den Arbeitsplatz gewechselt haben. In diesem Diagramm werden „Jobverbleiber“ als Personen definiert, die denselben Beruf und dieselbe Branche wie vor einem Jahr ausüben und in den letzten drei Monaten denselben Arbeitgeber hatten. „Jobwechsler“ sind alle anderen. Wie die Grafik zeigt, erfreuen sich solche Wechsler weiterhin über deutlich höhere Lohnzuwächse
Die Vorteile eines Arbeitsplatzwechsels nach der Pandemie
* 3-Monats gleitender Durchschnitt der Medianlöhne, nicht saisonbereinigtQuellen: Federal Reserve Bank of Atlanta, DWS Investment GmbH; Stand: 08.03.2024
Für einen Nichtökonomen mag dies offensichtlich erscheinen. Warum sollte jemand den Job wechseln, wenn die Arbeitsmärkte nicht angespannt sind und die Aussichten bei anderen Arbeitgebern besser sind? Allerdings gibt es für solche Verhaltensweisen in der Regel wenig Spielraum in den ökonomischen Modellen, mit denen sich Makroökonomen am wohlsten fühlen. Theoretisch sollten sich die Löhne auf einem wettbewerbsintensiven Arbeitsmarkt sowohl für Jobverbleiber als auch für Jobwechsler rasch anpassen, insbesondere wenn die Lebenshaltungskosten steigen. Schließlich ist der Ersatz erfahrener Arbeitskräfte für Arbeitgeber kostspielig, insbesondere für Fachkräfte, die eine Ausbildung am Arbeitsplatz erhalten haben. Von rationalen Arbeitgebern könnte man erwarten, dass sie ihr Möglichstes tun, um solche erfahrenen Arbeitskräfte an Bord zu halten.
Stattdessen wird immer deutlicher, dass die Reallöhne am unteren Ende des Arbeitsmarktes seit 2020 wesentlich schneller gestiegen sind als bei Spitzenverdienern.[2] Mit der Anspannung auf den Arbeitsmärkten nahm auch die Wechselbereitschaft zu, insbesondere bei jungen Arbeitnehmern ohne Hochschulabschluss, die in schlechter bezahlten Jobs anfingen.[3]Eine interessante Erklärung wäre, dass typische Arbeitgeber in diesem Segment mitunter vor Ort über erhebliche Marktmacht verfügten, um die Löhne niedrig zu halten – man denke an Fast-Food-Ketten oder Arbeitsplätze in Lagerhäusern. Wenn das so ist, könnte ein Teil der jüngsten Zuwächse darauf zurückzuführen sein, dass junge Arbeitnehmer ohne Hochschulabschluss überproportional von schlechter bezahlten, wenig produktiven Jobs zu höher bezahlten und potenziell produktiveren Arbeitsplätzen wechseln. Da es Produktivitätssteigerungen widerspiegelt, muss ein solches Lohnwachstum nicht inflationär sein.
„Dies hat vielversprechende Implikationen für die Geldpolitik. Solche Phänomene könnten erklären, warum die Arbeitslosigkeit nicht so stark steigen musste, wie viele befürchtet hatten, bevor die Inflation zu sinken begann. Oder wie man es im Wirtschaftsjargon ausdrücken könnte: Wir erleben möglicherweise eine erneute Abflachung der Phillips-Kurve, die Zusammenhang zwischen Inflationsniveau und Arbeitslosigkeit beschreibt“, erklärt Christian Scherrmann, US-Ökonom bei der DWS. Da lohnt es sich für die Federal Reserve (Fed), erstmal abzuwarten, ob die Inflation weiter sinkt, ohne dass die Arbeitslosigkeit deutlich steigt. Ormerod wäre wohl kaum überrascht. Als früher Pionier bei der Anwendung maschineller Lerntechniken auf die Analyse makroökonomischer Daten warnte er die politischen Entscheidungsträger eindringlich davor, vorzutäuschen, mehr über die Prozesse zu wissen, die Wirtschaftsdaten erzeugen, als sie es tatsächlich tun.