- Ein Zahlungsausfall der US-Regierung ist nach wie vor unwahrscheinlich. So seltsam es auch klingen mag, aber die jüngsten politischen Äußerungen lassen darauf schließen, dass die Schuldenobergrenze rechtzeitig angehoben werden dürfte.
- Wenn dem Finanzministerium das Geld ausgeht, bevor eine Einigung zustande kommt, könnte es zu Problemen bei der Priorisierung der Schuldendienstlast gegenüber anderen Ausgaben kommen.
- Angesichts dieser Unwägbarkeiten sind Anleger verständlicherweise zurückhaltend. Auch weil das Angebot an Staatsanleihen ansteigen dürfte, wenn der Streit erstmal gelöst ist.
Für Marktteilnehmer ist die US-Schuldenobergrenze eines der Elemente amerikanischer Politik, die regelmäßig für Verwirrung, Frustration und Angst sorgen. Die Schuldenobergrenze ist ursprünglich aus der Staatsfinanzierung im Ersten Weltkrieg entstanden. Sie setzt gesetzliche Grenzen für die Kreditaufnahmen des Finanzministeriums, welche es dann ohne weitere Zustimmung des Kongresses durchführen kann[1]. Wenn der Kongress diese Verschuldungsgrenze weder anhebt noch aussetzt, könnte es zu katastrophalen Folgen für Märkte, Wirtschaft und das Ansehen der Vereinigten Staaten kommen[2]. Die derzeitige Obergrenze für die Bruttoverschuldung liegt bei 31,4 Billionen Dollar. Dem Finanzministerium geht der Spielraum für das Einhalten dieser Grenze allmählich aus. Laut Finanzministerin Janet Yellen geht man derzeit davon aus, dass wir Anfang Juni, möglicherweise sogar schon am 1. Juni, nicht mehr in der Lage sein werden, alle unsere Rechnungen zu bezahlen[3]." In diesem Beitrag gehen wir einige der grundlegenden Fragen, Fakten und möglichen Szenarien durch, die Anleger bei der Beurteilung der täglichen Nachrichtenflut berücksichtigen müssen.
Ausfall oder kein Ausfall?
"Es gibt eine Person auf dem Planeten Erde, die die Macht hat, dafür zu sorgen, dass wir keinen Zahlungsausfall haben", erklärte der republikanische Senator Ted Cruz am Sonntag auf Fox News und bezog sich dabei auf Präsident Joe Biden. Senator Cruz fügte hinzu: "Ein verantwortungsbewusster Präsident hätte gesagt, (...) dass die Vereinigten Staaten von Amerika niemals einen Zahlungsausfall erleiden werden[4]." Schließlich könnte der Präsident "einfach" den Zahlungen von Zinsen und Tilgungen aus fälligen Anleihen Vorrang vor anderen Staatsausgaben einräumen.
Wie die meisten Marktteilnehmer erwarten und hoffen wir inständig, dass diese These in den kommenden Tagen und Wochen nicht auf die Probe gestellt wird. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags scheinen die Verhandlungen zwischen dem Weißen Haus und den führenden Vertretern des Kongresses besser zu verlaufen, als es noch vor einigen Monaten oder sogar Wochen den Anschein hatte. Ein politisch und rechtlich plausibles Szenario, in dem es zu einem technischen Zahlungsausfall bei Staatsanleihen kommt, setzt eine ganze Reihe von Missgeschicken und Unfällen in den kommenden Wochen voraus.
Zunächst einmal müsste der Kongress so lange untätig bleiben, bis dem Finanzministerium der finanzielle Spielraum ausgeht. Wobei dieser Tag selbst, angesichts der Ungewissheit über die Ausgaben und Steuereinnahmen, ein bewegliches Ziel darstellt. Außerdem müssten etwaige Bemühungen des Finanzministeriums scheitern, Zinsen und Tilgungen aus fälligen Anleihen trotzdem, auch ohne Tätigwerden des Kongresses zu bedienen.
Welche Möglichkeiten gibt es, wenn dem Finanzministerium das Geld ausgeht, bevor die Schuldenobergrenze angehoben oder ausgesetzt wird? Könnte es im Juni zu einem Regierungsstillstand kommen?
Berichten zufolge hat das Finanzministerium bereits "inoffizielle" Pläne ausgearbeitet, wie Kosten für den Schuldendienst vor anderen staatlichen Ausgaben priorisiert werden könnten[5]. Diese Pläne würden vermutlich Entscheidungen darüber beinhalten, welche Zahlungen aufgeschoben werden sollen, ähnlich wie bei früheren Regierungsstillständen. In den letzten Jahren wurden mehrere zusätzliche Optionen geschaffen, um eine weitere Kreditaufnahme am Markt zu vermeiden oder zu verringern und/oder die Verfassungsmäßigkeit der Schuldenobergrenze anzufechten.
Im gegenwärtigen Stadium der Verhandlungen betrachten wir diese „Lösungen“ eher als Denk-, denn als Handlungsoptionen, da eine Einigung über die Schuldenobergrenze im Interesse beider Seiten zu liegen scheint. Eine Einigung, die beide Seiten als Erfolg bezeichnen können, wäre auch ein gutes Vorzeichen für die Verhandlungen über die Finanzierung der Regierung nach dem Sommer, d. h. für die Vermeidung von Regierungsstillständen auch noch im späteren Jahresverlauf.
Sicherlich dürften einige Investoren skeptisch bleiben, wie belastbar die bisherigen Fortschritte wirklich sind. Es lohnt sich daher zu erklären, worauf Senator Cruz, ein ausgebildeter Verfassungsrechtler, vermutlich anspielte. Die US-Verfassung sieht keine Pflicht zur Selbstverstümmelung vor - sinngemäß hat es auch das oberste Verfassungsgericht wiederholt so formuliert. In Krisenzeiten ist der Präsident befugt, alles zu tun, was nötig ist, um den Schaden zu begrenzen. Und den Gerichten stehen zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, um wirtschaftlich katastrophale Folgen zu vermeiden oder zumindest zu minimieren, während sie gleichzeitig die Rechtmäßigkeit der von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen prüfen[6].
Wenn die Zeit abläuft, wäre also durchaus mit diversen Notlösungen seitens der Administration zu rechnen. Dass es dennoch zu einem Zahlungsausfall kommen könnte, läge dann weniger am Wollen der Regierung als an möglichen technischen Pannen beim Zahlungsprozess. In diesem Fall wäre der Druck auf das Repräsentantenhaus immens. Dieser Druck könnte auch ohne Zahlungsausfall entstehen: Wenn beispielsweise die Zahlungen an US-Rentner gefährdet schienen, während ausländische Zentralbanken, einschließlich der von China, ihre Anleihen ausbezahlt bekämen[7].
Was könnten die wirtschaftlichen Folgen eines Zahlungsausfalls und/oder eines Regierungsstillstands sein?
Abhängig vom Ausgang des Dramas um die Schuldenobergrenze könnten die wirtschaftlichen Auswirkungen weitreichend sein[8]. Nach wie vor gilt die Faustregel, dass jede Woche Regierungsstillstand rund 0,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) kosten könnte. Je länger ein Regierungsstillstand dauert, desto eher dürfte diese Zahl steigen. Man sollte allerdings beachten, dass sich die Stimmung nach einem potenziellen Zahlungsausfall verschlechtern würde. Vor allem verglichen mit früheren Regierungsstillständen, die allein durch die Nichtbewilligung von Mitteln ausgelöst wurden. Daher schätzen wir die anfänglichen Auswirkungen eines etwaigen Regierungsstillstands im Rahmen des weiteren Verlaufs des aktuellen Dramas mit etwa 0,3-0,4 Prozent des BIP etwas höher ein. Je länger die Krise andauert, desto stärker würden sich die Auswirkungen auf das BIP aufgrund der Stimmung und der geringeren Staatsausgaben bemerkbar machen. Sollten die USA de facto mit ihren Schulden in Verzug geraten (ausbleibende Zins- und Tilgungszahlungen fälliger Anleihen) und keine rasche Lösung gefunden werden, sind die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen äußerst schwer vorherzusagen.
Was könnte eine ausbleibende rasche Einigung für die Fed-Bilanz und die Leitzinsen der Fed bedeuten?
Die Federal Reserve (Fed) wird nicht präventiv handeln und muss jeden Eindruck einer Monetarisierung der US-Schulden vermeiden. Beispiele hierfür wären eine Staatsfinanzierung durch das Drucken von Geld, und selbst Sekundärmarktkäufe könnten in Frage gestellt werden, da sie möglicherweise die Finanzierungskosten senken. Man muss bedenken, dass sich die derzeitige geldpolitische Situation von der im Jahr 2013 in einigen Punkten unterscheidet. Mittlerweile sorgen die ständige Repo-Fazilität als Teil des neuen „ample reserve frameworks[9]“, das Diskontfenster sowie das „Bank Term Funding Program[10]“, welches US-Staatsanleihen zum Nennwert als Sicherheit akzeptiert, für mehr Flexibilität bei der Liquiditätsversorgung des US- Finanzsystems. Zudem könnte man argumentieren, dass das 2013 vorherrschende Stigma – solide Banken leihen sich kein Geld von der Fed – heute erheblich an Gewicht verloren hat. So gesehen ist vieles von dem, was in der Vergangenheit diskutiert wurde, bereits umgesetzt, und die Fed scheint gut vorbereitet zu sein. Im Allgemeinen wird die Fed höchstwahrscheinlich dem Mantra folgen: "Wenn sich die wirtschaftlichen Aussichten ändern, werden wir anders reagieren". Direkte Anleihekäufe könnten angesichts der oben genannten Probleme weiter unten auf der Liste der möglichen Reaktionen stehen.
Auswirkungen auf die Anlageklassen
Angesichts dieser Unwägbarkeiten sind die Anleger verständlicherweise zurückhaltend. Zwar gehen wir davon aus, dass eine kleine Einigung den Weg zu einer konstruktiveren Beziehung zwischen dem Kongress und der Regierung für den Rest der ersten Amtszeit von Joe Biden ebnen könnte. Wir möchten aber darauf hinweisen, dass es noch zu früh ist, um weitere Probleme nach dem Sommer auszuschließen, wenn der Kongress die Bewilligungsverfahren zur Aufrechterhaltung der Finanzierung der Regierung und Budgeterstellung durchläuft.
Bei Staatsanleihen gilt es außerdem zu beachten, dass ihr Angebot wahrscheinlich ansteigen wird, wenn die Probleme mit der Schuldenobergrenze vorüber sind. Dies könnte bei den Renditen etwas Druck nach oben auslösen und sich auf andere Bereiche des Marktes auswirken, insbesondere auf Investment-Grade-Anleihen (IG). Insgesamt würden wir jedoch erwarten, dass die Erleichterung über das Vermeiden der schlimmsten Szenarien die Marktstimmung verbessern würde. Sollten sich die USA stattdessen auf einen Zahlungsausfall zubewegen, wäre mit einer Flucht in sichere Vermögenswerte zu rechnen, wovon ironischerweise Staatsanleihen mit längeren Laufzeiten profitierten. Bei risikoreicheren Vermögenswerten dürften sich die Risikoprämien deutlich ausweiten. Vor allem wenn die politischen Ereignisse den Eindruck eines Chaos in Washington verstärkten, dessen Ende nicht absehbar schiene.
Auch bei Aktien denken wir, dass unsere Erwartungen einer gesichtswahrenden politischen Einigung bereits mehr oder weniger eingepreist sein dürften. Jegliche Verzögerung über Anfang Juni hinaus würde die Märkte wahrscheinlich belasten, da die Anleger mit jedem weiteren Tag zunehmend nervöser werden dürften. Allerdings wird viel von der letztendlichen Lösung abhängen, ebenso wie von den indirekten Auswirkungen der aktuellen Ereignisse, etwa auf die weitere Geldpolitik.
Zusammenfassend möchten wir betonen, dass wir uns nach wie vor inmitten eines Dramas befinden, dessen Wendungen bereits bis hierher viele politische Beobachter überrascht haben. Beispielsweise hätten vor wenigen Wochen nur wenige alte Hasen im Washington dem neuen Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy zugetraut, Ende Mai gleichzeitig konstruktive Gespräche mit der Regierung zu führen und für weitgehende Einheit in der republikanischen Fraktion zu sorgen[11]. Aber das Finale steht erst bevor. Es ist zu früh für Applaus. Umso mehr aber wäre nun ein unglücklicher Zeitpunkt, abschließend beurteilen zu wollen, wie sich die verschiedenen politischen Ergebnisse auf die längerfristige Attraktivität von US-Anlagen auswirken dürften. Allein schon deshalb, weil es bei politischen Ereignissen selten der Fall ist, dass aus Marktsicht gute oder schlechte Dinge in deutlich abgrenzbaren Paketen auftauchen. Realistische Szenarien beinhalten meist beides. Betrachten wir zum Beispiel die folgenden drei, vergleichsweise plausiblen Szenarien, die wir bei unseren Investitionsentscheidungen intern diskutieren:
- Der Kongress beschließt zum 1. Juni eine Aussetzung der Schuldenobergrenze bis September, ohne dass es darüber hinaus eine verbindliche Vereinbarung gibt.
- Der Kongress hebt die Schuldenobergrenze auf ein Niveau an, das wahrscheinlich bis Ende 2024 reicht. Allerdings gelingt die Einigung und der Abschluss erst in der ersten Junihälfte, nachdem das Finanzministerium ein paar Tage lang dem Schuldendienst Vorrang vor anderen Ausgaben einräumen musste. Diese vorrangigen Zahlungen werden ohne Pannen durchgeführt. Darüber hinaus enthalten die Verhandlungsergebnisse einige Schlüsselelemente, die künftige Verhandlungen über die staatliche Finanzierung mindestens für die nächsten zwei Jahre prägen dürften.
- Der Kongress bleibt untätig. Die Regierung nutzt etwas, das Kritiker als juristischen Trick bezeichnen, um die Schuldenobergrenze effektiv zu umgehen. Die Gerichte schreiten zwar nicht ein, die Republikaner im Repräsentantenhaus sind aber äußert verärgert und kündigen lauthals an, es Biden in den kommenden Finanzierungsrunden im Herbst "heimzuzahlen".
Nun sollte man überlegen, wie man diese Szenarien nach Attraktivität risikoreicherer US-Anlagen in den nächsten zwölf Monaten einordnen würden. Wenn man unseren internen Diskussionen Glauben schenken darf, ist diese Frage alles andere als trivial, denn vieles hängt von den impliziten Annahmen ab, die Anleger bei der abstrakten Bewertung solcher Szenarien zu treffen pflegen.