26. Juni 2023 Künstliche Intelligenz

Investieren im Zeitalter der KI

Künstliche Intelligenz wird sich wahrscheinlich als eine der folgenreichsten Entwicklungen erweisen, die wir in unserem Berufsleben als Vermögensverwalter erleben werden.

Björn Jesch

Björn Jesch

Global Chief Investment Officer
  • Bei der DWS ermöglicht künstliche Intelligenz es uns, alle unsere alten Geschäftsannahmen in neuem Licht zu betrachten.
  • Anstatt Daten als "das neue Öl" zu betrachten, das nur darauf wartet entdeckt und genutzt zu werden, passt die Analogie mit erneuerbaren Energie besser.
  • Auf absehbare Zeit wird erfolgreiches Investieren im Zeitalter künstlicher Intelligenz wohl auch weiter sorgfältiges Denken erfordern.

“Künstliche Intelligenz” (KI) hat 2023 dem gesamten US-Aktienmarkt Auftrieb verliehen.[1] Die Auswirkungen betreffen allerdings weit mehr als nur den unmittelbaren Marktausblick. Lassen Sie mich stattdessen versuchen, Ihnen das Gesamtbild näher zu bringen. Bei der DWS betrachten wir KI zunehmend als integralen Bestandteil unserer Geschäftstätigkeit.

An solche Glaubensbekenntnisse haben Sie sich wahrscheinlich inzwischen gewöhnt. Veröffentlichungen zu KI gibt es zuhauf. Ebenso wie zahlreiche mehr oder weniger fundierte Analysen darüber, welche Branchen, Teilbranchen (und Unternehmen) gut aufgestellt sind und welche am stärksten durch disruptive Veränderungen gefährdet sein könnten. Tatsächlich haben auch wir zu diesen Themen bereits einiges veröffentlicht.[2] Und weitere einschlägige Publikationen werden nicht lange auf sich warten lassen.

Aber für uns als globaler Vermögensverwalter mit treuhänderischen Verpflichtungen unseren Kunden gegenüber stellen sich auch ein paar grundlegendere Fragen

Um uns für Investitionen im Zeitalter der KI zu positionieren, betrachten wir bei der DWS all unsere alten Geschäftsannahmen in neuem Licht und passen sie an, wo es angemessen ist. Diesen Prozess wiederholen wir wieder und wieder, wenn neue Daten eintreffen und wir neue Wege finden, unsere Annahmen darüber zu testen, wie diese aufregende, neue Welt funktionieren wird. Wo und warum sich das Investitionsumfeld bereits verändert. Wie unsere Konkurrenz aussehen wird und was sie heute schon tut. Wie und warum wir unsere Anlageprozesses neu denken müssen. Wie wir lange bewährte Annahmen testen können, die in der Vergangenheit zwar gut funktioniert haben, die aber überwiegend durch die intuitiven Urteile unserer Experten bestätigt wurden, anstatt sie durch Datenanalysen zu validieren und zu verfeinern.

Wir gehen davon aus, dass uns dafür schon bald viele neue KI-gestützte Tools an jedem Schritt entlang unserer Wertschöpfungskette zur Verfügung stehen werden. Diese werden nicht nur einmalige, sondern kontinuierliche Verbesserungen ermöglichen. Wie und warum? Nun, als Ausgangspunkt würden wir vorschlagen, KI grundsätzlich innerhalb desselben Modellrahmens zu betrachten, den man zur Analyse der Auswirkungen jeglicher neuen Technologien für Investmenttätigkeiten heranziehen kann. Märkte passen sich an. Aber selbst wenn man Finanzmärkte für zumeist ziemlich effizient hält und glaubt, dass neue Informationen rasch eingepreist werden, gelingt das natürlich nur, soweit es die jeweils zur Verfügung stehenden Technologien möglich machen (natürlich kann man die gesamte These effizienter Märkte in Frage stellen, das ist allerdings eine ganz andere Diskussion).[3] Teil dieser Einschränkung ist auch, dass es dauern kann, bis Anleger und Unternehmen den Umgang mit einer neuen Technologie meistern.

Jede Innovation, egal ob sie die Erfassung, die Übertragung oder die Verarbeitung neuer, potenziell preisrelevanter Informationen betrifft, führt zu einer Art Wettrüsten der Marktteilnehmer. Als im Juli 1866 die erste Transatlantikverbindung für Telegrafie erfolgreich in Betrieb genommen wurde, schrumpfte die Zeitspanne, in der eine (potentiell kursrelevante!) Information von der New Yorker zur Londoner Börse (oder umgekehrt) ankam auf null Tage, von zuvor rund zehn Tagen.[4]

Wer als Börsenmakler Ende der 1860er Jahre mit seinen Konkurrenten mithalten wollte, hatte keine andere Wahl, als für diese neue Informationsquelle zu bezahlen. Etwas aktueller gilt die ähnliche Logik für jede Form der Informationsverarbeitung, von den Taschenrechnern in den 1960er Jahren bis zu „Personal Computern“ oder Tabellenkalkulationen in den 1980er Jahren. Diese und mehr noch das Internet zeigen uns jedoch, dass die Anpassung an neue Technologien nicht nur eine Frage der neuesten Ausrüstung oder des neuesten Softwareupdates ist. Vielmehr müssen Organisationen und ihre Mitarbeiter ihre Prozesse analysieren und verstehen, wie die neue Technologie ihnen eine kontinuierliche Verbesserung ermöglichen kann, um mit bestehenden und künftigen Mitbewerbern Schritt zu halten.

Aus der Perspektive eines großen, global agierenden Vermögensverwalters glauben wir, dass generative KI einen großen Einfluss auf die Demokratisierung von Datenanalysetechniken haben wird. Diese sind theoretisch zwar bereits verfügbar, werden bisher allerdings hauptsächlich von einigen der größten Akteure genutzt. Da beispielsweise das Erfassen oder Verarbeiten von Daten traditionell kostspielig und die Interpretation schwierig war, konnte schiere Größe ein wichtiger Wettbewerbsvorteil sein. Das dürfte sich nun ändern. Alle bestehenden Techniken und Instrumente der prädiktiven Datenanalyse werden für jeden leichter zugänglich, der die Ergebnisse zu interpretieren weiß. Dadurch beweist AI transformatives Potenzial, besonders auch für kleinere, flinke Marktteilnehmer.

Zumindest kurz- bis mittelfristig könnte sich die größte Wirkung von großen Sprachmodellen (LLMs), die Programmen wie ChatGPT zugrunde liegen, darin erweisen, dass sie die von menschlichen Nutzern eingegebenen Fragen in durch andere Maschinen verlässlich lesbare Formate "übersetzen" können. Andere, spezialisiertere KI-Anwendungen können daraus wiederum ihre Anweisungen ableiten, unabhängig davon, wie unterschiedlich die menschlichen Nutzer sie formuliert haben mögen.

In ähnlicher Weise können LLMs die von spezialisierten Anwendungen generierten Antworten in schriftliche, kohärente Antworten "übersetzen", die menschliche Nutzer tatsächlich verstehen und für ihre Entscheidungen nutzen können.

Ich habe diese Worte mit Bedacht gewählt. Sprechen Sie einmal mit der IT-Abteilung über ein beliebiges IT-Projekt, und Sie werden schnell feststellen, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen dem, was prinzipiell möglich ist, und was in der Praxis machbar und vor allem funktionabel ist.  Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine gute Methode zur Beurteilung von KI-Expertise darin besteht, nach beidem zu fragen: nach der großen Vision, und danach, wie  sie konkret umgesetzt werden könnte.

Aber egal wie genau man es formulieren möchte: für uns und viele andere Sektoren bedeutet KI eine bahnbrechende Neuerung, mit gewaltigen, bereits absehbaren Folgen. Die neuen Werkzeuge ermöglichen die elektronische Datenverarbeitung natürlicher Spracheingaben, in dem sie menschliche Gedankengänge verlässlich und automatisch in numerische Darstellungen umwandeln, die von spezialisierten Anwendungen „verstanden“ und analysiert werden können. Und deren „Antworten“ dann, zumindest im Prinzip, wieder in ein für Menschen verständliches Format umgewandelt werden können. Schon bald werden auch kleinere Unternehmen in der Lage sein, hochentwickelte Tools über kostenpflichtige API-Abonnementmodelle zu nutzen und sie auf ihren speziellen Anwendungsfall abzustimmen, indem sie ihre eigenen Daten für die Feinabstimmung verwenden. Wir gehen davon aus, dass in relativ kurzer Zeit ähnliche benutzerfreundliche KI-gestützte Tools auch für Kleinanleger zur Verfügung stehen werden.

Dieselbe Logik gilt potenziell für viele weitere Bereiche wirtschaftlicher Aktivität. Generative KI erleichtert den Zugang zu allen möglichen prädiktiven Datenanalysetechniken und Instrumenten. Sie wird eine Fülle an kommerziellen Anwendungsfällen ermöglichen. Viele Nutzer dürften nicht einmal merken, dass sie KI verwenden, und es dürfte ist ihnen auch ziemlich egal sein. Ähnlich war es ja auch mit früheren KI-gestützte Innovationen, wie Navigationssoftware, der automatischen Sprachvervollständigung oder sprachgesteuerten persönlichen Assistenten, die viele Nutzer zunehmend als selbstverständlich ansehen. 

Während einige bestehende Wettbewerbsvorteile etablierter Unternehmen schwinden könnten, sehen wir allerdings auch gegenläufige Effekte. KI wird es großen, traditionellen Vermögensverwaltern wahrscheinlich ermöglichen, neue Vorteile aus ihrer globalen Größe, Produktenvielfalt und Reichweite zu ziehen. Dazu müssen wir unsere Anlageprozesse neu überdenken. Die meisten der in den letzten zehn Jahren entstandenen KI-Tools basieren auf der Erfassung, "Bereinigung" und der stochastischen Nutzung von Daten, um bessere Vorhersagen zu treffen. Daten sind also von zentraler Bedeutung. Aber anstatt Daten als "das neue Öl" zu betrachten (mit grundsätzlich begrenzten Vorkommen, die nur darauf warten, entdeckt und gefördert zu werden), passt eine Analogie zu erneuerbaren Energien besser, die in unbegrenzter Menge zur Verfügung stehen und einfach nur effizient erfasst und gespeichert werden müssen. So wie die Ideen, die jeden Tag von unseren sehr talentierten Kollegen auf der ganzen Welt entwickelt werden, von denen derzeit nur ein kleiner Teil als Daten erfasst wird, die für das maschinelle Lernen genutzt werden können.

Der Unterschied zwischen Amazon oder Google und traditionellen Finanzdienstleistern besteht nicht so sehr darin, dass die Unternehmen im Silicon Valley über mehr potenziell relevante Daten verfügen als die Wall Street. Das dürfte zwar der Fall sein (zumindest in Bezug auf verwendbare Daten), aber der eigentliche Unterschied ist ein anderer: Daten stehen bei Technologieunternehmen von Anfang an, überall im Zentrum ihres Handels und selbst in der Art und Weise, in der sie organisiert und aufgebaut sind.

Man kann sich KI in gewisser Weise wie Solarenergie vorstellen und die jüngsten Fortschritte als eine massive Senkung der Kosten für die Installation von Photovoltaikanlagen auf dem Dach betrachten. Nicht jedes Gebäude wird dadurch sofort zu einem Smart Home. Aber es ist ein guter Anfang, um effizienter zu werden und einen Teil der zuvor verlorenen Energie einzufangen. Um die Analogie noch weiterzuführen: Wir bei der DWS verfügen über globale Größenvorteile, Produktenvielfalt und Reichweite. Dadurch haben wir viele gute Standorte mit viel Sonnenschein, deren Potential nur darauf wartet, unseren Fortschritt anzutreiben.

In datenzentrierten Technologieunternehmen, von Start-Ups bis zu Technologiegiganten, basieren alle Prozesse auf der Annahme, dass das Erfassen, Aufbereiten und Nutzen von Daten zentral für den Erfolg des Geschäftsmodells ist. Dass ihre vorgefassten Meinungen darüber, wie der Markt funktioniert, wie ihre Kunden ticken und wie sie Wertschöpfung generieren, überprüft und revidiert werden müssen, indem jeden Tag solide Daten gesammelt und analysiert werden und dabei die besten verfügbaren Datenanalysetools verwendet werden. Und dann das Gelernte zu nutzten, um noch bessere Möglichkeiten der Datenerhebung zu finden, mit denen die überarbeiteten Annahmen überprüft werden können.[5]

Traditionelle Vermögensverwalter können viel von dieser Denkweise lernen. KI ermöglicht es uns, auf jahrzehntelanger Erfahrung mit dem, was sich in der Praxis bewährt hat, aufzubauen, indem sie es einfacher macht, vorgefertigte Meinungen zu überprüfen, auf die wir uns bisher hauptsächlich aufgrund von Expertenintuition verlassen haben.

Wie bei vielen disruptiven technologischen Innovation gibt es auch bei KI neben Hoffnungen auch viele Ängste.[6] Bei Letzteren wird häufig nicht berücksichtigt, wie bestimmte Wirtschaftszweige und ganze Volkswirtschaften auf technologische Durchbrüche und die daraus resultierenden Veränderungen bei den relativen Kosten verschiedener Waren, Dienstleistungen und Aufgaben reagieren. Auch darüber werden wir in künftigen Veröffentlichungen noch ausführlich berichten.

Noch dringender ist jedoch zu erkennen, was die aktuelle Generation von KI-Anwendungen nicht kann, zumindest noch nicht. In ihrer sehr nützlichen Einführungslektüre über die Ökonomie der KI bieten die Ökonomen Ajay Agrawal, Joshua Gans und Avi Goldfarb viele Beispiele von Unternehmen und Personen, die ihren „KI-Erkenntnis-Moment“ in den Jahren nach 2012 erlangten.[7] In der Regel geht es dabei darum, heikle technische Herausforderungen wie die Programmierung autonom fahrender Fahrzeuge in einfache Vorhersageprobleme umzuwandeln, etwa nach dem Motto "Was würde ein guter menschlicher Fahrer typischerweise tun?" Als nächster Schritt werden dann enorme Mengen an Daten über menschliches Verhalten gesammelt und stochastisch genutzt.

Diese Herangehensweise verspricht eine Unmenge weiterer Fortschritte. Teile vieler Arbeitsabläufe können automatisiert werden. Erfahrene Fachleute können sich in vielen Aufgaben schnell einigen, wie die richtige Antwort auf die vorliegenden Vorhersageprobleme aussehen sollte; Erfolg kann eindeutig gemessen werden (also etwa, ob das autonom fahrende Fahrzeug tatsächlich unfallfrei unterwegs ist); rasche Feedbackschleifen können implementiert werden; und „alles“, was noch fehlt, ist die Verknüpfung von Grundlagentechnologien mit Prozessen, die relevante Daten darüber sammeln, wie Mitarbeiter solche häufigen Probleme bereits angehen, sowie Tools zur Analyse und Auswertung der Daten. In diesen Bereichen könnte man erwarten, dass KI das menschliche Fachwissen vielleicht schon bald übertrifft, denn einiges spricht dafür, Expertenintuition als eine Form der Mustererkennung zu betrachten.[8]

Wir glauben, dass KI sehr nützlich für das Erledigen von relativ routinemäßigen, aber zeitaufwändigen Aufgaben sein wird. Dies wird jedoch eher eine Ergänzung als ein Ersatz für menschliches Fachwissen sein, gerade weil die Mustererkennung bei seltenen oder ungewöhnlichen Problemen nur von begrenztem Nutzen ist. Auf absehbare Zeit wird der Erfolg beim Investieren wie in anderen Bereichen nicht nur die ständige Verbesserung von KI-gestützten Anwendungen und Prozessen erfordern, sondern auch sorgfältiges, sehr menschliches Denken. Nicht zuletzt, um Bereiche für weitere Verbesserungen zu identifizieren, bevor es Mitbewerber tun.

Abschließend möchte ich sagen, dass wir uns in aufregenden Zeiten befinden. Bei der DWS geht es vor allem darum, die Organisation der internen Prozesse neu zu denken. Wie wir besser nützliche eigene Daten generieren können. Wie wir unseren Fokus mehr auf die verschiedenen Inputs in unseren Investmentprozessen legen, statt Erfolg hauptsächlich an Ergebnissen zu messen.

Wie wir mehr Ideen generieren, ausprobieren und testen, sowie die Wirkungszusammenhänge von Erfolg und Misserfolg besser verstehen können. Und wie wir Ihnen erklären können, was wir dabei alles lernen.

Weitere Themen

Mehr erfahren

1. Fear of missing out’ drives retail investors to ride AI wave | Financial Times (ft.com)

2. Für einen schnellen Überblick unserer aktuellen Meinung, schauen sie insbesondere hier Generative Künstliche Intelligenz – ein neuer iPhone Moment? (dws.com)

3. Für Diskussionen zu beiden Themen siehe das sehr nützliche Buch von Andrew Lo (2019, 2. Aufl.) Adaptive Markets: Financial Evolution at the Speed of Thought, Princeton University Press

4. Die vorherige Verzögerung spiegelte die Zeit wider, die Dampfer für die Überquerung des Ozeans benötigten. In der Tat verwenden Wirtschaftshistoriker heutzutage häufig Börsenkursdaten aus dem 19. Jahrhundert, um abzuschätzen, wie schnell sich Informationen vor der ersten Kabelverbindung verbreiten konnten. Siehe zum Beispiel, Hoag, C. (2006). The Atlantic Telegraph Cable and Capital Market Information Flows. The Journal of Economic History, 66(2), 342-353. http://www.jstor.org/stable/3874880

5. Eine schöne Veranschaulichung im Kontext von Start-ups findet sich in Ries, E. (2014) “Lean Startup: Schnell, risikolos und erfolgreich Unternehmen gründen”, Redline Verlag

6. Pause Giant AI Experiments: An Open Letter - Future of Life Institute

7. Agrawal, A., Gans, J. and Goldfarb, A. (2018), “Prediction Machines: The Simple Economics of Artificial Intelligence”, Harvard Business Review Press

8. Kahneman, D. (2012) Thinking, Fast and Slow pp. 234 – 244, Penguin

CIO View