29. Nov. 2023 ESG

Elektrifizierung: Das Innovationsdilemma

Aktuelle Pläne zur Nutzung erneuerbarer Energien als effiziente Lösung zur Verringerung der Treibhausgasemissionen könnten so manches etablierte Geschäftsmodell ins Wanken bringen.

Vor mittlerweile fast dreißig Jahren prägte der Wirtschaftswissenschaftler Clayton Christensen den Begriff "Innovationsdilemma".[1] Sein Modell gibt Aufschluss darüber, warum selbst Unternehmen, die auf eine lange Erfolgsgeschichte zurückblicken können, Schwierigkeiten haben, mit disruptiven Innovationen umzugehen.

Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür bieten traditionelle, etablierte Versorgungsunternehmen. Die Stromnachfrage zu steuern oder ihre Dienstleistungen zu digitalisieren gehörte historisch gesehen nicht zu ihren Hauptaufgaben. Doch auf genau diese Fähigkeiten wird es – neben dem Ausbau der Kapazitäten – beim Übergang zu erneuerbaren Energien besonders ankommen. Dies wird sicherlich kein einfaches Unterfangen. Es gibt jedoch eine Reihe plausibler Lösungen, die auch schon lange allgemein bekannt sind.[2]

Das Problem dabei: traditionelle Versorgungsunternehmen haben ihre Geschäftsmodelle über viele Jahrzehnte ganz anders ausgerichtet. Allgemein neigen etablierte Unternehmen dazu, sich auf die Verbesserung von Produkten oder Dienstleistungen in kleinen Schritten zu konzentrieren. Dabei steht die Befriedigung der Bedürfnisse etablierter Kunden mit hohen Gewinnspannen im Vordergrund. Absichtlich oder unabsichtlich behindern sie dabei häufig Innovationen, die ihre traditionellen Geschäftsmodelle stören könnten.[3] Clayton Christensens Innovationsdilemma hilft zu erklären, warum Länder, die versucht haben, ihre Energiewende vergleichsweise früh voranzutreiben, mit erheblichen Problemen zu kämpfen hatten.

CO2-Emissionen im Transportwesen steigen weiterhin

CO2-Emissionen in USA und EU in Millionen Tonnen

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Quelle: Emissionsdatenbank für die globale Atmosphärenforschung, Stand: November 2023

Im Gegensatz dazu sind disruptive Technologien[4] für etablierte Anwendungen anfangs meist eher ungeeignet. Newcomer konzentrieren sich in der Regel auf kleine, zunächst recht marginale Nischensegmente, die von den etablierten Unternehmen vernachlässigt werden. Ein hervorragendes Beispiel für eine disruptive Technologie ist das Auto, auch wenn es schon 100 Jahre alt ist. Bis weit in die 1920er Jahre hinein bevorzugten anspruchsvolle Kunden die fast geräuschlosen, leicht zu bedienenden und zuverlässigen Elektroautos. Im Vergleich dazu galten die frühen Autos mit Verbrennungsmotor als unbequem, schmutzig und nicht sehr zuverlässig.[5] Dank der Elektrifizierung von Fließbändern und den damit verbundenen Innovationen in der Erzeugung und an den Autos selbst konnten diese Spritfresser jedoch bald massenhaft und sehr billig produziert werden.[6] Seitdem sind Verbrennungsmotoren die Technologie, auf die die etablierten Autobauer seit Jahrzehnten ihre Prozesse ausgerichtet haben.[7]

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass disruptive Technologien ihre Auswirkungen oft auf unvorhersehbare Weise entfalten. Sie können so manches etablierte Geschäftsmodell ins Wanken bringen, an das man zunächst kaum denken würde. Beispielsweise war bei der Einführung des iPhones zunächst keineswegs klar, dass dadurch ausgerechnet für Taxiunternehmen Konkurrenz entstehen würde.

Das Transportwesen ist der einzige große Sektor weltweit, in dem die CO2-Emissionen weiterhin ansteigen (siehe Grafik). Dies gilt selbst für Regionen wie Europa, die ansonsten auf dem Weg zur Klimaneutralität gut vorankommen.[8] Regierungen und Investoren erachten die Emissionsreduktion in diesem Sektor inzwischen als eine dringende Priorität. Angesichts der Unterschiede zwischen etablierten und disruptiven Technologien sollten sie bei der Prognose potenzieller Gewinner mit Bedacht vorgehen. "Bei all der Ungewissheit, die disruptive Technologien mit sich bringen, können sich Manager immerhin auf eine Gewissheit verlassen: Die Prognosen der Experten werden immer falsch sein."[9]

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1. Christensen, C. (2003 ed.) "The Innovator's Dilemma: When New Technologies Cause Great Firms to Fail," Harper Business Essentials; Das Dilemma besteht darin, rechtzeitig zu erkennen, wann, wie und warum „bessere Planung, härtere Arbeit, stärkere Kundenorientierung und eine längerfristige Perspektive“ S. xxii angesichts disruptiver technologischer Veränderungen zum Scheitern zuvor erfolgreicher Unternehmen führen können.

2. Getting the most out of tomorrow’s grid requires digitisation and demand response (economist.com)

3. Mit Bezug auf Deutschland siehe insbesondere: Article | bne - Bundesverband Neue Energiewirtschaft e.V. (bne-online.de) und Smart Meters, Sluggish Policy? Germany Rejects Fast Smart Meter Rollout | Greentech Media

4. Disruptive Technologien zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie in zunächst meist überschaubaren Marktsegment mit anderen Merkmalen punkten, als zuvor verfügbar waren. Christensen, (ibid. p. xviii) nennt dazu in den frühen Auflagen das Buch aus den 1990igern unter anderem „Internetgeräte“, die „in naher Zukunft zu disruptiven Technologien für Anbieter von PC-Hardware und -Software werden könnten.“

5. Dem kollektiven Gedächtnis der Autoindustrie zufolge gehörte auch Henry Fords Frau zu den anspruchsvollen Fans von Elektroautos. Siehe zum Beispiel: As electric motors improve, more things are being electrified (economist.com)

6. Der Wandel in der Produktionstechnik hin zu austauschbaren Teilen mit arbeitsteiliger Fertigung und fließendem Materialtransport war nur dank der Elektrifizierung möglich. Siehe: Gas-Steam Engine, 1916, Used to Generate Electricity at Highland Park Plant - The Henry Ford

7. Eine weitere, lang anhaltende Auswirkung bestand in der Art und Weise, wie die immer gigantischeren Konzerne organisiert wurden, wobei GM als Vorbild diente. Siehe zum Beispiel: McChrystal S., Collins, T., Silverman, D. und Fussell, C. (2015), Team of Teams: New Rules of Engagement for a Complex World, Penguin, Seiten 188-198

8. Für weitere Details, siehe: https://www.dws.com/en-gb/insights/global-research-institute/transforming-transportation/

9. Christensen, C. ibid, Seite. 178 (Kursiv wie im Original)

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