11. Dez. 2023 Politics

Schlechte Finanzen und mittelmäßige Politik

Insgesamt scheinen die U.S. Entscheidungsträger mit dem schnellsten Zinserhöhungszyklus seit Menschengedenken gar nicht so schlecht fertig zu werden.

Björn Jesch

Björn Jesch

Global Chief Investment Officer
  • Finanzpolitische Schuldzuweisungen und Streitereien sind auch in Washington ein alter Hut. Mit Blick auf das Jahr 2023 ist das kein Grund zur Panik.
  • Die politischen Entscheidungsträger haben, genau wie die Märkte, gerade den schnellsten Zinserhöhungszyklus seit Menschengedenken hinter sich.
  • Diese gewöhnen sich zunehmen daran und es gibt bereits Gründe für vorsichtigen Optimismus.

"Marktexperten führen im Allgemeinen politische Funktionsstörungen als Hauptgrund dafür an, dass sie pessimistischer geworden sind, was die fiskalischen Aussichten [der USA] angeht", berichtete das Washingtoner Nachrichtenmagazin Politico kürzlich.[1] Wir haben in kursiver Schrift hervorgehoben, was uns an dieser speziellen Denkweise der Wall Street am Meisten auffällt. Wo genau waren denn eigentlich diese Marktexperten in den letzten Jahrzehnten?

Tatsächlich war das Jahr 2023 für die Verhältnisse auf Capitol Hill gar nicht so schlecht. Viele der düstersten Prognosen - manchmal auch solche von denselben Marktexperten, die sich immer noch Sorgen machen - sind nicht eingetreten. Im Juni hob der Kongress die Schuldenobergrenze an, was bedeutete, dass die Regierung weiterhin für bereits getätigte Ausgaben aufkommen konnte.[2] Im September handelte der Kongress erneut, zugegebenermaßen sehr spät, um einen Regierungsstillstand zu vermeiden, der die Finanzierung der Regierung für etwa sechs Wochen aufrechterhielt und Sprecher Kevin McCarthy seinen Job kostete.[3] Im November sorgte McCarthys Nachfolger Mike Johnson für eine weitere befristete Verlängerung.[4]

Auch gab es bereits in den letzten 20 Jahren weitaus weniger Regierungsstillstände als in den 1980er und 1990er Jahren.[5] Sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht ist der Hintergrund jetzt ein ganz anderer und erinnert in gewisser Weise an frühere Zeiten mit hoher Inflation. Was die Wirtschaft betrifft, so wurden während der Pandemie massive Steuerausgaben getätigt und viele sich überschneidende, oft recht ad hoc durchgeführte Maßnahmen auf verschiedenen Regierungsebenen ergriffen, wobei die Auswirkungen auf die Wirtschaft sehr unsicher waren

Dies war vielleicht nicht die bestmögliche politische Reaktion, und dass nicht nur im Nachhinein. Was die pandemischen Vorhersagefehler in Bezug auf die längerfristigen Kosten der fiskalischen Großzügigkeit angeht, gibt es jedoch reichlich Kandidaten für mögliche Schuldzuweisungen. Wie wir damals beschrieben haben, waren viele Wirtschaftsfachleute, die an den Finanzmärkten und sogar in den Zentralbanken tätig waren, erschreckend langsam, was das Erkennen der Inflationsdynamik nach der Covid-Krise und deren Auswirkungen auf die Zinssätze betraf.[6]

Die politischen Entscheidungsträger haben ebenso wie die Märkte gerade den schnellsten Zinserhöhungszyklus seit Menschengedenken hinter sich. Im historischen Vergleich sind die durchschnittlichen Zinssätze für die Staatsverschuldung eigentlich gar nicht so hoch (siehe Grafik). Da aber sowohl die Schulden als auch die Defizite des Staates im Vergleich zur Wirtschaftsleistung so hoch sind wie zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg, wirken sich steigende Zinssätze weitaus stärker auf die Kosten des Schuldendienstes aus.[7]


Im historischen Vergleich sind die Zinssätze für US-Staatsschulden nicht sonderlich hoch


Politisch gesehen waren die Schulden und das Defizit lange Zeit ein Randthema.[8] Das dürfte sich mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2024 schnell ändern. Steigende Kosten für den Schuldendienst sind in der Regel die Voraussetzung dafür, dass Defizite und Staatsschulden zu Themen werden, die den Wählern am Herzen liegen und von den Politikern letztendlich angegangen werden. So funktioniert die Politik in demokratischen Ländern in der Regel. Es ist schwer, die Wähler oder Politiker dazu zu bringen, sich wirklich Sorgen um die Defizite zu machen, solange sich die Marktteilnehmer selbst kaum vorstellen können, dass die Zinssätze und Schuldendienstkosten irgendwann einmal steigen werden. Umgekehrt wird der rasante Anstieg der Kosten des Schuldendienstes das Thema wahrscheinlich zumindest für eine Weile in den Vordergrund rücken, selbst wenn die Zinsen wieder zu fallen beginnen.

Angesichts der bevorstehenden Wahlen im Jahr 2024 besteht nun eine gute Chance, dass ein Kandidat auftaucht, der - ähnlich wie Ross Perot 1992 - bereit ist, sich dem Thema zu stellen. Donald Trumps 2017 verabschiedete Einkommensteuersenkungen laufen 2025 aus. Die Frage, ob diese Steuersenkungen verlängert werden sollen oder nicht, wird höchstwahrscheinlich ein heißes Wahlkampfthema sein. Die Spitzenkandidaten der beiden großen Parteien sind alt und in der breiten Wählerschaft unpopulär.[9] In Anbetracht ihrer jeweiligen Erfolgsbilanz ist keine der beiden Parteien besonders glaubwürdig, wenn es darum geht, den Haushalt auszugleichen oder die Staatsausgaben zu senken. Unter den vielen unvorhersehbaren Möglichkeiten, wie sich das Wahljahr entwickeln könnte, erscheint ein Kandidat einer dritten Partei, der auf das Thema Haushaltsdefizit setzt, immer plausibler.

Bis dahin gibt es gute Gründe, sich etwas weniger Sorgen über die fiskalpolitische Funktionsstörungen in Washington zu machen, als es letztes Jahr um diese Zeit angebracht war, nachdem die Ergebnisse der letzten Zwischenwahlen bekannt wurden. Allerdings ist die Art und Weise, wie der Kongress in den USA die Staatsausgaben genehmigt, etwas ausgefallen.[10] So betreffen die Kämpfe um die Schließung der Regierung in der Regel nur etwa 25 % des Haushalts und kaum einen der Posten, die längerfristige Defizite verursachen.[11] Dies ist jedoch nicht wirklich seltsamer als die politischen Zwänge bei der Haushaltsplanung in anderen demokratischen Ländern.[12]

Gegen Ende des Jahres 2023 scheinen die meisten Republikaner im Repräsentantenhaus geneigt gewesen zu sein, einen Stillstand zu vermeiden - und damit auch den Rückschlag in der Wählergunst, den dieser für ihre Partei bei den Wahlen bedeuten hätte können. Die jüngste Übergangsmaßnahme sieht vor, dass die Regierung nicht auf einen Schlag geschlossen werden muss. Die Finanzierung der ersten Posten der Ermessensausgaben würde am 19. Januar eingestellt, der Rest am 2. Februar. Es ist zu erwarten, dass bis zum Februar, vielleicht sogar bis zum Januar, Kompromisse gefunden werden. Bemühungen im Senat, militärische Mittel für die Ukraine, Israel und den indo-pazifischen Raum bereitzustellen und gleichzeitig die Grenzsicherheit zu erhöhen, könnten einen Hinweis darauf geben, wie ein solcher Kompromiss eines Tages aussehen könnte.

Längerfristig besteht das eigentliche Problem für die USA und mehr noch für viele andere fortgeschrittene Volkswirtschaften darin, wie man mit einer alternden Bevölkerung fertig wird. Das ist nichts Neues, sonder deit der "Nationalen Kommission zur Reform der sozialen Sicherheit" aus der Regan-Ära bekannt, die vor gut 40 Jahren von keinem Geringeren als dem späteren Fed-Vorsitzenden Alan Greenspan geleitet wurde.[13] Irgendwann werden die Ausgaben begrenzt oder die Einnahmen erhöht werden müssen, oder die politischen Entscheidungsträger auf Kombinationen aus beidem einigen müssen. "Natürlich sind solche längerfristigen Prognosen heikel", erklärt Christian Scherrmann, US-Ökonom bei der DWS. "Es müssen viele Annahmen getroffen werden, von Wachstum, Inflation und Leitzinsen bis hin zum künftigen Verhalten von Unternehmen, Haushalten und auch der Politik. Längerfristige Projektionen sollten daher nur als grobe Richtschnur dienen - wohl wissend, dass das es ganz anders kommen kann."

So werden beispielsweise die Ausgaben für das Gesundheitswesen und die soziale Sicherheit bei der derzeitigen Politik wahrscheinlich steigen, und sei es nur aus demografischen Gründen. Der größte Teil des langfristigen Drucks auf den amerikanischen Haushalt kommt von den steigenden Pflichtausgaben, insbesondere von Medicare, der Gesundheitsversorgung für die über 65-Jährigen. Andererseits waren die Reformen der letzten 13 Jahre erstaunlich wirksam bei der Verbesserung der Gesundheitsergebnisse und der Begrenzung der Kosteninflation im Gesundheitswesen, so dass Angriffe auf "Obamacare" für die Republikaner in den letzten Jahren zu einem verlorenen Wahlkampfthema wurden.[14]

Die Quintessenz ist, dass Washington letztendlich doch Wege findet, sich durchzuwurschteln. Politische Dysfunktion, parteipolitische Schuldzuweisungen und fiskalische Winkelzüge sind auf Capitol Hill seit langem völlig normal, ebenso wie Last-Minute-Reparaturen, um die Situation vorübergehend wieder zu stabilisieren. Vor einem Jahrzehnt beklagte ein guter politikwissenschaftlicher Ratgeber über ähnliche Patt-Situationen "ein jahrzehntelanges Versagen, sich auf ein Einkommenssteuergesetz zu einigen, das vorhersehbar, effizient und gerecht ist" und einen weiteren "Sieg von Tricksereien und taktischen Spielchen statt echter Politikgestaltung und hart erarbeiteter Kompromisse".[15] Das wird man wahrscheinlich auch noch in ein paar Jahren über das sagen, was als nächstes kommt. Aber warum genau dies einen Marktexperten heute pessimistischer stimmen sollte als vor einem, fünf oder zehn Jahren, ist schwer zu sagen.

Weitere Themen

Mehr erfahren

1. The government won’t curb spending. Wall Street will make it pay. - POLITICO

2. America avoids financial Armageddon but stays in fiscal hell (economist.com)

3. GOP holds emotional meeting on next speaker — but fails to unite on one - POLITICO

4. America’s government isn’t shutting down just yet (economist.com)

5. America’s next government shutdown could be the strangest yet (economist.com) ; für weitere Details, siehe R41759 (congress.gov)

6. Sense and nonsense in inflationary times (dws.com)

7. America may soon be spending more on debt service than defence (economist.com); s. auch Rockoff, H. (2012) "America's Economic Way of War: War and the US Economy from the Spanish-American War to the Persian Gulf War" Cambridge University Press; S. 162-174 zu U.S. Regierungsfinanzen in Kriegszeiten, sowie, als vereinfachter historischer Überblick:  Gross Federal Debt as Percent of Gross Domestic Product (GFDGDPA188S) | FRED | St. Louis Fed (stlouisfed.org)

8. Why Isn’t Anyone Talking About The Deficit Anymore? | FiveThirtyEight

9. Joe Biden : Approval Polls | FiveThirtyEight und Donald Trump : Favorability Polls | FiveThirtyEight

10. Wirtschaftlich gesehen sind strenge Beschränkungen der Kreditaufnahme fast immer willkürlich und letztlich nutzlos, meist mit unerwünschten Nebeneffekten, da die politischen Entscheidungsträger und ihre Berater innovative Wege finden, diese Regeln zu umgehen. Siehe: America’s debt ceiling is a disaster, though fiscal rules can help (economist.com)

11. Dies liegt an der etwas willkürlichen Unterscheidung zwischen "obligatorischen" Ausgaben, wiez. B. für die Gesundheitsversorgung und die soziale Sicherheit, und "diskretionären" Ausgaben. Diskretionäre Ausgaben bedürfen einer jährlichen Genehmigung, so dass die Regierung, wenn der Kongress nicht handelt, unter Umständen Mitarbeiter entlassen und nicht lebensnotwendige Ausgaben einfrieren muss. Siehe z.B: Forget the shutdown. America’s real fiscal worry is rising bond yields (economist.com)

12. Germany is in a bizarre fiscal mess of its own making (economist.com)

13. Social Security History (ssa.gov)

14. Trump revives talk of repealing Obamacare after reading WSJ op-ed - POLITICO

15. McCarty, N., Poole, K., Rosenthal H. (2013), Political Bubbles: Financial Crises and the Failure of American Democracy, Princeton University Press; Seite. 279

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