12. Jän. 2024 Europa

Europas Inflationsdivergenz

Die jüngsten Schocks zeigen, dass die Eurozone eine sehr heterogene Gruppe immer noch weitgehend nationaler Volkswirtschaften ist. Noch ist die Inflation nicht besiegt.

Einer der Nachteile einer gemeinsamen Währung besteht darin, dass sie den Umgang mit asymmetrischen Schocks erschwert. Mitgliedsländer verlieren ihre Fähigkeit, mit der Geldpolitik zu reagieren, wenn ein überraschendes Ereignis ihre Volkswirtschaften auf unterschiedliche Weise trifft oder wenn das Ausmaß und die Dauer eines Schocks variieren. Der Euroraum hat gerade drei solcher Schocks erlebt: Covid-19, die daraus resultierenden Unterbrechungen der globalen Lieferkette und die Energiepreissprünge nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2022.[1]

Angesichts des Ausmaßes dieser Herausforderungen – ganz zu schweigen von den zahlreichen damit verbundenen Verzerrungen bei der Messung von Wirtschaftsdaten[2]– scheint die Europäische Zentralbank (EZB) zumindest vorerst einigermaßen gut zurechtzukommen. Auch wenn die Inflationswarnzeichen wohl zu spät erkannt wurden, scheint es in letzter Zeit doch besser gelaufen zu sein. Immerhin galt es gemeinsame geldpolitische Antworten auf ein derart vielfältiges Spektrum an Schocks zu finden, die eine immer noch sehr heterogene Gruppe immer noch weitgehend nationaler Volkswirtschaften treffen.

Bandbreite der Inflation in der Eurozone

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*Harmonisierter Verbraucherpreisindex

Quellen: Haver Analytics Inc; Stand: 05.01.2024

 Unser „Chart of the Week“ zeigt die Inflationsraten für den gesamten Euroraum seit 2016, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), sowie die Bandbreite zwischen dem Land mit der niedrigsten und der höchsten Inflationsrate zum jeweiligen Zeitpunkt. Im Dezember 2023 lagen die Inflationsraten beispielsweise zwischen 0,5 Prozent in Italien und Belgien und 6,6 Prozent in der Slowakei. Die Grafik zeigt auch, wie und wann die Inflation gestiegen ist. Ebenso auffällig ist die wachsende Bandbreite zwischen den Inflationsraten verschiedener Mitglieder der Eurozone seit Beginn der Covid-Pandemie im Jahr 2020.

Die Gründe sind leicht zu ermitteln. Pandemiebedingte Sperrungen und staatliche Unterstützungsprogramme waren in den einzelnen Mitgliedsländern sehr unterschiedlich, ebenso wie die Gefährdung durch globale Lieferkettenengpässe und russische Energieimporte. Innerhalb des Euroraums gibt es große Vielfalt, nicht nur in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung. Der Energiemix ist von Land zu Land unterschiedlich, ebenso der Anteil pandemieempfindlicher Sektoren wie der Tourismus oder die Gewichtung von Lebensmitteln und Energie in den nationalen HVPI-Körben zur Inflationsmessung. Dazu kommt eine subtilere Ebene an Komplikationen, wenn es um Zweitrundeneffekte geht. Denn die Länder der Eurozone unterscheiden sich deutlich darin, wie schnell sich die Arbeitsmärkte anpassen und wie Mieten, Sozialleistungen, regulierte Preise und Steuern auf die Inflation reagieren, teilweise sogar innerhalb einzelner Mitgliedsländer.

„Dies macht die Arbeit der EZB nicht einfach, zumal auch von Seiten der Politik immer wieder versucht wird, Einfluss zu nehmen.“, erklärt Ulrike Kastens, Senior Economist Europe der DWS. „Doch die Inflationsgefahr ist noch lange nicht gebannt, insbesondere aufgrund steigender Löhne in wirtschaftlichen Schwergewichten wie Deutschland.“

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1. Ein Überblick über aktuelle Herausforderungen und einige relevante Wirtschaftsliteratur findet sich etwa unter: 2. Fostering cyclical convergence in the euro area | OECD Economic Surveys: Euro Area 2021 | OECD iLibrary (oecd-ilibrary.org)

2. Siehe etwa Goodhart, Charles und Manoj Pradhan (2020)) The Great Demographic Reversal: Ageing Societies, Waning Inequality and an Inflation Revival. Palgrave Macmillan, pp. 214

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