21. Juli 2022 CIO Special

Vom Bewertungsrisiko zum Gewinnrisiko

Die Gefahr einer Rezession zeigt sich jetzt deutlicher in den Marktbewertungen, nicht aber in den Gewinnprognosen

  • Angesichts der Tatsache, dass viele Aktienmärkte um mehr als 20 Prozent gefallen sind, defensive Sektoren sehr teuer sind und institutionelle Anleger extrem pessimistisch sind, ist man versucht zu denken, dass "alles schon eingepreist ist".
  • Wir glauben jedoch, dass das Zusammentreffen vieler negativer Entwicklungen die Märkte in den kommenden Monaten nervös machen wird, da die Gewinnschätzungen wahrscheinlich weiter nach unten korrigiert werden.
  • Auf Sicht von 12 Monaten erhoffen wir uns mehr Klarheit über den Krieg, die Energieversorgung, das Wachstum und den Margendruck sowie darüber, wie die Finanzmärkte mit der quantitativen Straffung und dem Ende des Fed-Put umgehen werden.

Vom Bewertungs- zum Gewinnrisiko - Angst vor Energiekrise verantwortlich für extreme Dax-Skepsis

Das Zusammentreffen wirtschaftlicher, geopolitischer und geldpolitischer/ inflationärer Risiken hält die Anleger in Atem, was sich unter anderem in erhöhten Volatilitäten an den verschiedenen Finanzmärkten zeigt. Trotz zuletzt leicht positiver Nachrichten von den russischen Gasexporten durch die Nordstream 1-Pipeline birgt dieses Thema vor der Wintersaison immer noch erhebliche wirtschaftliche Risiken für Europa. Auf 12-Monats-Sicht sehen wir jedoch bei sinkender Volatilität ein Aufwärtspotenzial für globale Aktien im mittleren einstelligen Bereich, das sich für Europa auf potenziell zweistellige Gewinne erhöhen würde, wenn der Krieg in der Ukraine zu einem erträglichen Ende käme.


Die Inflation überrascht weiterhin

Die veröffentlichten Inflationszahlen bieten immer noch keine Entlastung für die Märkte. Eine von den Zentralbanken erzwungene Kontraktion der Wirtschaft scheint insbesondere in den USA die einzige Möglichkeit zu sein, den Inflationsgeist zurück in die Flasche zu bekommen. Die Märkte spiegeln dieses drohende Rezessionsszenario unserer Meinung nach bereits wider während die Wahrscheinlichkeit wächst, dass die US-Notenbank (Fed) in schnellen, großen Zinsschritten handeln wird. Die US-Renditekurve 1,[1] ein beängstigend zuverlässiger Frühindikator für eine Rezession in sechs bis neun Monaten, ist Mitte Juli invertiert und notiert auf einem 22-Jahres-Rekordtief.


Die Bewertungsmultiplikatoren sinken auf ein "normaleres" Niveau; wenn nur die Gewinnschätzungen realistisch wären

Nach dem Sturz der weltweiten Aktienmärkte um über 20 Prozent bereiten uns die Bewertungsniveaus per se jetzt weniger Sorgen. Die meisten Bewertungskennzahlen sind gesunken und notieren nun nahe ihrer historischen Durchschnittswerte und im Einklang mit ihrem längerfristigen Verhältnis zu den Zinsverhältnis gehandelt. Nach unseren Berechnungen haben der Anstieg des risikofreien Zinssatzes (approximiert durch die realen 10-jährigen Zinssätze der US-Staatsanleihen,[2] die von -1 auf +0,6 Prozent gestiegen sind) und die Aktienrisikoprämie (approximiert durch den Volatilitätsindex VIX,[3] der von 17 auf 27 gestiegen ist) den S&P 500 im Jahresvergleich um 1.300 Punkte gesenkt. Diese Bewertungsanpassung war notwendig, als die Fed begann, ihre unkonventionelle Geldpolitik der letzten fünf Jahre umzukehren. Der größte Teil dieser Anpassung dürfte inzwischen abgeschlossen sein. Wir halten daher an unserem Ziel-Kurs-Gewinn-Verhältnis von 18 für die nächsten zwölf Monate fest, was unserer S&P 500 Zielniveau in Höhe von 4.200 Punkten per Juni 2023 erklären sollte, und leicht positiven Renditeprognosen auch für die anderen Aktienmärkte.


U.S.-Realrenditen und Volatilität erklären den größten Teil der jüngsten S&P-Bewegungen

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Quellen: FactSet Research Systems Inc., DWS Investment GmbH; Stand: 19.07.2022
Prognosen basieren auf Annahmen, Schätzungen, Ansichten und hypothetischen Modellen oder Analysen, die sich als nicht zutreffend oder nicht korrekt herausstellen können.


Gewinnprognosen dürften noch zu optimistisch sein – auch aufgrund des starken Dollars

Kurzfristig bleiben wir jedoch vorsichtig, da uns die unrealistisch hohen Gewinnerwartungen für 2023 weiterhin Sorgen bereiten. Wir erwarten, dass die Gewinnmargen in den kommenden Quartalen sinken werden. Die Konjunkturabschwächung, hohe Inputkosten und sinkende Reallöhne dürften die Rentabilität belasten. Während die zyklischen Sektoren offensichtlich am meisten gefährdet sind, könnten auch die IT-Ausgaben für Halbleiter und Software in Mitleidenschaft gezogen werden. Die außerordentliche Stärke des US-Dollars wird den Gewinndruck auf die US-Unternehmen noch verstärken, wobei sich der negative Währungseffekt bereits zwischen dem ersten und zweiten Quartal des laufenden Jahres verdoppeln wird.


Globale Gewinnprognosen nach Sektoren für 2023

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Quellen: Bloomberg Finance L.P., DWS Investment GmbH; Stand: 19.07.2022
Prognosen basieren auf Annahmen, Schätzungen, Ansichten und hypothetischen Modellen oder Analysen, die sich als nicht zutreffend oder nicht korrekt herausstellen können.


Die Ängste des Marktes zeigen sich in teuren defensiven Sektoren

Ein Teil der Marktunsicherheit spiegelt sich bereits in rekordhohen Aufschlägen für „sichere“ Sektoren wie Telekommunikation, nicht-zyklischem Konsum und Versorger wider. Wir würden auf weitere Gewinnrückgänge in zyklischen Sektoren warten, bevor wir eine Herabstufung in defensiven Marktsegmenten in Betracht ziehen. Wir halten an unserer Übergewichtung im Gesundheitswesen fest und sind positiver gegenüber dem Energiesektor eingestellt, in dem eine strukturelle Angebotsknappheit die Ölpreise mittelfristig hochhalten dürfte, es sei denn, es kommt zu einer tieferen Rezession als angenommen.


Deutsche Aktien besonders stark betroffen

Die Nähe zum Krieg in der Ukraine und das Risiko einer beeinträchtigten Energieversorgung haben den Dax in den letzten Monaten besonders hart getroffen. Wir sind der Meinung, dass die Anlegerstimmung bezüglich des Dax kaum noch weiter sinken kann. Bei einem KGV-Abschlag von 40 Prozent gegenüber dem S&P 500 gehen wir davon aus, dass die Aktienkurse die Wahrscheinlichkeit einer schweren Rezession in Deutschland zu mindestens 50 Prozent einkalkulieren, einschließlich Gewinneinbußen von weiteren 30 Prozent oder mehr aufgrund einer drohenden Energiekrise. Eine vollständige Unterbrechung der russischen Erdgaslieferungen würde die deutsche Wirtschaft zweifellos in eine kurze Rezession stürzen, aber wir sind der Meinung, dass die deutsche Wirtschaft große Fortschritte bei der Vorbereitung auf dieses Szenario gemacht hat. Befürchtungen, dass der Dax in Richtung seines historischen Bewertungstiefs von etwa dem 1-fachen des Buchwerts fallen könnte (was derzeit einem Indexstand von etwa 9.000 entspräche), erscheinen uns daher übertrieben.


Kumulierte Risiken, defensive Marktpositionierung und kein Auslöser für eine schnelle Erholung

Ein Krieg in Europa, Inflationsraten auf Rekordniveau, zunehmend aggressivere Zentralbanken, dem Ende des Fed-Put, stattdessen eine unerprobte Bilanzverkürzung insbesondere der Fed (Quantitative Tightening) inmitten einer Konjunkturabschwächung: Dieses Mischung, ergänzt um unser Basisszenario einer milden Rezession in den USA, stellt derzeit eine schwer verdauliche Mischung für Anleger dar. Wie sich diese Faktoren - die für sich alleine schon erschreckend genug wären – im Zusammenspiel entwickeln werden, ist höchst ungewiss. Laut dem jüngsten Fund Manager Survey der Bank of America ist die Stimmung und die Positionierung der institutionellen Anleger extrem pessimistisch.[4] Aus antizyklischer Sicht könnte man dies als günstigen Zeitpunkt für einen Markteinstieg deuten. Die Märkte haben bereits in erheblichem Maße korrigiert (die USA und Europa liegen mehr als 20 Prozent unter ihrem Höchststand und der MSCI Emerging Markets Index ist um ein Drittel gefallen). Dadurch fiel der Stoxx 600 auf sein Niveau von vor Covid-19, aber der S&P 500 wird immer noch 15 Prozent über seinem Niveau von Anfang 2020 gehandelt, zugegebenermaßen auf der Grundlage viel höherer Gewinnprognosen heute.

Wir sind jedoch skeptisch, was diese Gewinnprognosen angeht, die offenbar die 2022er Gewinne als Grundlage nehmen, obwohl die letzten beiden Jahre durch die starken Schwankungen der Pandemie stark verzerrt waren. Das sequentielle vierteljährliche Wachstum des Gewinns pro Aktie hat sich seit Ende letzten Jahres bereits stark verlangsamt. Unser eigener Gewinnindikator deutet sogar auf einen leichten sequenziellen Gewinnrückgang hin, während die allerjüngsten Daten sogar auf einen stärkeren Gewinneinbruch hindeuten. Darüber hinaus ist der starke Dollar ein Gegenwind, der in unserem Gewinnindikator nicht berücksichtigt ist. Die Konsensgewinnprognosen für den S&P 500 im Jahr 2023 liegen jetzt bei 250 US-Dollar, was unserer Meinung nach etwa 5-10 Prozent zu hoch sein könnte.

In Anbetracht der hohen Unsicherheit und der geringen Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes Ereignis die Aussichten auf einen Schlag signifikant aufhellen könnte, erwarten wir, dass die kommenden Monate von einem nervösen Seitwärtshandel an den Märkten geprägt sein werden. Es dürfte den Anlegern schon seit einiger Zeit nicht mehr darum gehen, überhaupt eine Rezession einzupreisen, sondern es dürfte jetzt nur noch darum gehen, welche Länge und Schärfe der Rezession eingepreist wird.

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Mehr erfahren

1. Invertierte (negative) Zinskurve: Die Renditen 2-jähriger Staatsanleihen sind höher als die Renditen 10-jähriger. Am 13. Juli betrug der Wert -0,22%-Punkte.

2. Berechnet anhand impliziter Inflationsschätzungen (Breakevens), die von 10-jährigen inflationsgeschützten US-Treasuries abgeleitet wurden

3. implizierter Volatilitätsindex des S&P 500

4. Bank of America Global Research: Global Fund Manager Survey vom 19.Juli 2022

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